„Je komplizierter die Erkrankung, desto wichtiger ist eine Zweitmeinung“, so Prof. Jalid Sehouli von der Charité in Berlin. Dass die eigene Diagnose dabei völlig auf den Kopf gestellt werden kann, müsse ein guter Arzt verkraften können.
Vor allem Patienten, bei denen eine lebensbedrohliche Erkrankung diagnostiziert wird, holen sich häufig die Meinung eines zweiten Arztes ein. Verständlich, denn einen Fehler in der Behandlungsstrategie könnten sie schlimmstenfalls mit dem Leben bezahlen. Auch jüngere Untersuchungen kamen zu dem Schluss, dass Zweitmeinungen sinnvoll sind: Eine Studie an Hodenkrebspatienten des Universitätsklinikums Ulm zeigte, dass jeder sechste Patient mit dieser Erkrankung eine effektivere Therapie erhält, wenn sein behandelnder Arzt nach der Diagnose die Zweitmeinung eines Kollegen einholt. Bei nahezu 40 Prozent der Patienten hatten der behandelnde Arzt und ein weiterer Hodentumorexperte unterschiedliche Therapiepläne aufgestellt. Bei jedem vierten Patienten konnte die Medikamentendosis verringert werden. Auch ein Modellprojekt der Techniker Krankenkasse in Brandenburg mit dem Titel „Zweitmeinung Rücken“ zeigte, wie häufig die Ansichten von Ärzten differieren. Vier von fünf Patienten, denen von ihrem behandelnden Arzt zu einer Rücken-OP geraten wurde, erhielten als Zweitmeinung einen gegenteiligen Rat: Hände weg von einer Rücken-OP. Woran liegt das? Und wer behält am Ende Recht? DocCheck sprach mit Prof. Dr. med. Jalid Sehouli, Direktor der Klinik für Gynäkologie der Charité an den beiden Standorten Campus Virchow-Klinikum und Campus Benjamin Franklin in Berlin, der sich seit fast 13 Jahren regelmäßig mit Kollegen in der Online-Tumorkonferenz der Klinik für Gynäkologie austauscht. DocCheck: Dass Patienten von einer Zweitmeinung profitieren, liegt auf der Hand. Welche Vorteile bringt die Ansicht eines Kollegen für den behandelnden Arzt? Prof. Sehouli: Eine Zweitmeinung einzuholen, bedeutet, mit einem Kollegen in einen Dialog zu treten und Argumente auszutauschen. Bei zahlreichen Erkrankungen gibt es keine klar definierten Handlungsanweisungen, an die sich der behandelnde Arzt halten kann. Mit einer Zweitmeinung können sich Ärzte versichern, richtig zu handeln und sich über Alternativen Gedanken machen, die ihnen möglicherweise vor Ort gar nicht zur Verfügung stehen. In unserer Online-Tumorkonferenz beispielsweise schalten sich regelmäßig Niedergelassene und Klinikärzte aus dem gesamten Bundesgebiet zu, um seltene Erkrankungssituationen zu thematisieren. Dialog in der Medizin ist wichtig für Therapieentscheidungen und Innovationen. DocCheck: Was, wenn der befragte Kollege einen gänzlich anderen Therapieplan vorschlägt? Prof. Sehouli: Ein Zeichen der modernen Medizin ist, dass es niemals nur einen Weg gibt. Ich versuche meinen Patienten oft klar zu machen: Ein guter Arzt ist derjenige, welcher mehrere Therapieoptionen mit verschiedenen Zielkriterien definiert. Wenn beispielsweise ein Arzt zu einer OP rät, ein anderer diese ablehnt, gibt es keine richtige oder falsche Meinung. Dann müssen die Argumente mit wissenschaftliche Daten und persönlichen Erfahrungen hinterlegt werden. Nur im Dialog kann ein Konsensus gefunden werden. DocCheck: Ist es hilfreich, mehrere Zweitmeinungen einzuholen? Prof. Sehouli: Die Anzahl an Zweitmeinungen ist nicht entscheidend, wenn es darum geht, eine Therapieentscheidung zu treffen. Ich halte nichts davon, quasi einen Durchschnitt aus mehreren Zweitmeinungen zu bilden. Man kann relativ leicht festlegen, welche Behandlungsempfehlung auf welchem Evidenzgrad basiert. Das Wichtigste bei der Zweitmeinung ist: Wer gibt sie? Und wie transparent ist sie? Bezieht sich mein Ratgeber auf eine Leitlinie, auf eine Phase-III Studie oder auf sein Gefühl? DocCheck: Welche persönlichen Erfahrungen haben Sie mit Zweitmeinungen bisher gemacht? Prof. Sehouli: Bei der Online-Tumorkonferenz haben wir in vielen Fällen die Diagnose komplett gedreht. Denn eine Zweitmeinung kann auch dazu dienen, Dinge neu zu bewerten. Alleine durch Hinterfragen konnten wir bereits herausfinden, dass eine Patientin gar nicht an Eierstockkrebs erkrankt war, sondern unter einem anderen Tumor litt, der eine völlig andere Behandlung erforderte. Deshalb bin ich ein großer Fan der Zweitmeinungsphilosophie. Je komplizierter die Situation ist, desto mehr sollte man fragen. Früher hat man immer geglaubt, man müsse sofort mit der Therapie beginnen, sobald ein Tumor diagnostiziert wurde. Vorher genau zu prüfen, welche Therapie für den Patienten am besten ist, führt oft schneller zum Ziel als sofort eine Chemotherapie einzuleiten. DocCheck: Fühlen sich Ärzte nicht in ihrer Kompetenz beschnitten, wenn ihre Diagnose auf den Kopf gestellt wird? Prof. Sehouli: Wer die Medizin versteht, kann das aushalten. Ich selbst frage trotz meiner langjährigen Erfahrung immer wieder Kollegen um Rat. In der Medizin sind längst nicht alle Dinge bewiesen, da ist ein Dialog ganz normal. In allen Zertifizierungskommissionen gibt es Konferenzen; sie sind ein Qualitätskriterium. Auch meine Patienten holen sich Zweitmeinungen bei Kollegen ein. Manchmal kränkt mich das emotional, aber ich halte das trotzdem für gut und unterstütze das. Denn schließlich muss sich der Patient mit der Therapieentscheidung identifizieren. Ein großes Problem dabei ist allerdings, dass die gesetzlichen Krankenkassen Zweitmeinungen nicht abdecken. DocCheck: Wie bewerten Sie Zweitmeinungen aus dem Internet? Prof. Sehouli: Wenn ich nur die Unterlagen eines Patienten bekomme, sieht meine Therapieentscheidung häufig anders aus, als wenn ich den Patienten sehe. Denn Behandlungskonzepte orientieren sich nicht nur an Diagnosen, sondern berücksichtigen auch den körperlichen Zustand des Patienten. Neben der diagnostizierten Krankheit ist auch die Gesundheit des Patienten wichtig. Papier dient nur zur Orientierung. DocCheck: Vielen Dank für das Gespräch!