Funktionieren bestimmte Verbindungen im Gehirn nicht richtig, können Erkrankungen wie Parkinson, Zwangsstörung oder Tourette die Folge sein. Eine gezielte Stimulation von Hirnarealen kann helfen. Forscher haben hierfür jetzt eine Landkarte erstellt.
Neurologische und neuropsychiatrische Erkrankungen weisen ein breites Spektrum unterschiedlichster Symptome auf – von Störungen im Bereich der Stimmung oder der Informationsverarbeitung bis hin zu Beeinträchtigungen im Bewegungsablauf. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie auf fehlerhaft funktionierende Verbindungen von Gehirnregionen zurückzuführen sind. Vereinfacht gesagt: Hirnschaltkreise, die nicht richtig funktionieren, können sich wie Blockaden auf gesunde Gehirnfunktionen auswirken.
Die tiefe Hirnstimulation spricht solche Fehlfunktionen an und kann maßgeblich Symptome in verschiedenen Bereichen lindern. Winzige Elektroden werden hierbei neurochirurgisch in präzise definierte Zielgebiete des Gehirns implantiert und geben fortwährend schwache elektrische Impulse an das umliegende Gewebe ab. Die Stimulationseffekte werden über Nervenbahnen an weiter entfernte Hirnareale weitergetragen und entfalten so ihre vollständige Wirkung. Doch nicht immer ist die Stimulation erfolgreich, schon kleinste Abweichungen bei der Platzierung der Elektroden können die gewünschten Effekte ausbleiben lassen.
Welche Hirnverbindungen angeregt werden müssen, um die bestmöglichen Erfolge bei einer Behandlung unterschiedlicher Symptome zu erreichen, wollte ein internationales Team um Prof. Andreas Horn und Dr. Ningfei Li genauer bestimmen. „Unser Ziel war es noch besser zu verstehen, wo im Gehirn mögliche Blockaden durch eine Neuromodulation gelockert werden können, damit sich beispielsweise Symptome einer Parkinsonerkrankung wieder normalisieren“, so Li.
In ihrer Arbeit gingen die Forscher einem vermeintlichen, der Hirnforschung schon länger bekannten Paradoxon nach: Eine Region im Zwischenhirn, der subthalamische Kern, gilt als ein effektives Zielgebiet der tiefen Hirnstimulation zur symptomatischen Behandlung des Parkinsonsyndroms und der Dystonie. Beide Erkrankungen zählen zum Spektrum der Bewegungsstörungen. Dieselbe Hirnregion hat sich jüngst auch als erfolgreiches Zielgebiet zur Behandlung neuropsychiatrischer Störungsbilder herauskristallisiert, beispielsweise von Zwangserkrankungen oder Tic-Störungen.
Es stellte sich also die Frage, wie ein so kleiner Kern von ungefähr einem Zentimeter Länge effektiv in der Behandlung von Symptomen derart unterschiedlicher Hirnfunktionsstörungen sein kann. Um dem Paradoxon auf die Spur zu kommen, analysierte das Team die Daten von 534 implantierten Elektroden zur tiefen Hirnstimulation bei 261 Patienten aus der ganzen Welt. 70 von ihnen litten unter Dystonie, 127 unter der Parkinson-Krankheit, 50 hatten eine Zwangsstörung und 14 das Tourette-Syndrom. Mithilfe einer eigens entwickelten Software erfassten die Forscher die genaue Lage der jeweiligen Elektroden. Computersimulationen halfen, um daraufhin Nervenbahnen aufzuzeigen, die bei Patienten mit optimalen oder auch weniger optimalen Behandlungsergebnissen aktiviert wurden.
Für jede der vier Störungen stellten sich spezifische Schaltkreise heraus, die fehlerhaft funktionierten. Sie waren mit den entsprechenden Regionen im Vorderhirn verbunden, die eine wichtige Rolle für Bewegungsabläufe, Verhaltenssteuerung oder Informationsverarbeitung spielen. „Die von uns identifizierten Schaltkreise überschneiden sich teilweise, daher nehmen wir an, dass die Fehlfunktionen in den untersuchten Symptombildern nicht vollständig unabhängig voneinander sind“, sagt Barbara Hollunder, Stipendiatin des Einstein Center for Neurosciences an der Charité und Erstautorin der Studie.
Betroffene Nervenbündel bei Parkinson-Syndrom (grün), Dystonie (gelb), Tourette-Syndrom (blau) und Zwangsstörung (rot). Vergrößert neben dem Hirnschnitt: die jeweils optimalen Zielgebiete einer tiefen Hirnstimulation im Zwischenhirn. Credit: Charité, Barbara Hollunder
In einem ersten Schritt ist es somit gelungen, die Netzwerke in Vorder- und Mittelhirn exakt zu lokalisieren, die für eine Behandlung der Parkinsonerkrankung, der Dystonie, von Zwangsstörungen und des Tourette-Syndroms entscheidend sind. Wird der Ansatz über Störungsbilder mit unterschiedlichster Symptomatik hinweg angewendet, entsteht nach und nach eine Art Landkarte der Symptom-Netzwerk-Verschaltungen des Gehirns. „In Anlehnung an die Begriffe des Konnektoms als Beschreibung der Gesamtheit aller Nervenverbindungen im Gehirn, oder des Genoms als Sammelbezeichnung für die gesamte Erbinformation, haben wir hierfür den Begriff des menschlichen Dysfunktoms geprägt. Eines Tages soll dieses die Gesamtheit aller gestörten Hirnschaltkreise beschreiben, die als Folge von Netzwerkerkrankungen auftreten können“, wie Hollunder erklärt.
Die Erkenntnisse sind bereits ersten Patienten zugutegekommen. Durch Feinabstimmung und eine präzise Platzierung der Elektroden ließen sich unter anderem die Symptome schwerer, behandlungsresistenter Zwangsstörungen lindern. „Wir planen, die Technik weiterzuentwickeln und fehlerhafte Hirnschaltkreise noch hochauflösender für spezifische Symptome abzugrenzen. So könnten wir beispielsweise für Zwangsstörungen die Schaltkreise für zwanghafte Gedanken und Handlungen, oder auf häufig begleitend auftretende Symptome wie Depression oder Angststörungen isolieren, um die Behandlung bestmöglich individuell abzustimmen“, blickt Li in die Zukunft.
Darüber hinaus gehen die Forscher davon aus, dass im Gehirn nicht nur eine einzige Region ausschlaggebend für die Verbesserung eines bestimmten Symptoms ist. Vermutet wird, dass Nervennetzwerke selbst die therapeutischen Effekte tragen und von verschiedenen Punkten im Gehirn aus moduliert werden können. Damit gibt die Studie nicht nur wertvolle Hinweise für die zielgerichtete neurochirurgische Therapie, sondern sie liefert auch neue Denkansätze für nicht-invasive Methoden wie die transkranielle magnetische Hirnstimulation, bei der magnetische Impulse von außerhalb des Schädels Hirnregionen anregen und keine Operation notwendig ist.
Der Beitrag basiert auf einer Pressemitteilung der Charité – Universitätsmedizin Berlin. Die Originalpublikation findet ihr hier und im Text verlinkt.
Bildquelle: Getty Images, unsplash