Deutschlands Arbeitnehmer sind so lange krank wie nie zuvor – damit liegen wir auch im Europavergleich weit vorn. Warum ist das so und was muss sich ändern?
Im Gesundheitsreport 2023 hat der BKK-Dachverband Zahlenmaterial zu unterschiedlichen Aspekten von Krankmeldungen ausgewertet. Die Ergebnisse überraschen – und zeigen, welche Defizite es in Deutschland gibt.
Der Report nennt pro beschäftigter Person und Jahr 1,84 AU-Fälle bzw. 22,6 AU-Tage – ein Höchstwert innerhalb der letzten zehn Jahre. Pro Fall sind es 12,3 AU-Tage, was in etwa den Zahlen vor COVID-19 entspricht. Zwischen 2012 und 2019 waren es 11,7 bis 13,4 AU-Tage je Fall.
Als Erklärung führen die Autoren des Reports eine überdurchschnittlich starke Welle mit Atemwegserkrankungen in 2022 an. Solche Infektionen waren häufig, haben aber, verglichen mit anderen Ursachen der Arbeitsunfähigkeit, im Schnitt zu einer kürzeren Krankheitsdauer geführt. Nicht-pharmazeutische Maßnahmen zur Kontrolle der COVID-19-Pandemie konnten in den letzten Jahren auch sonstige Atemwegsinfektionen minimieren.
Wenig überraschend standen Erkrankungen der Atemwege mit 21,8 Prozent aller Fehltage an der Spitze der Krankmeldungen, gefolgt von Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems (19,3 Prozent) und von psychischen Erkrankungen (15,2 Prozent). Seltener waren Verletzungen oder Vergiftungen (9,2 Prozent), Infektionen (5 Prozent), Erkrankungen des Verdauungssystems (3,3 Prozent), Krebserkrankungen (3,2 Prozent) oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen (3,2 Prozent) Ursachen einer Krankschreibung.
Noch ein Blick auf Trends: Die Arbeitsunfähigkeit durch Atemwegserkrankungen hat sich zwischen 2019 und 2021 zunächst rückläufig entwickelt – ein Effekt von Masken, Abstandsregeln und Lockdowns. Ab 2021 bis 2022 ist die Zahl der AU-Tage aufgrund entsprechender Diagnosen stark nach oben geschnellt. Unabhängig von der Pandemie steigt die Zahl an AU-tagen aufgrund psychischer Erkrankungen zwischen 2012 und 2022 kontinuierlich an. Die AU-Kennzahlen in anderen Bereichen, etwa bei Muskel-Skelett-Erkrankungen, sind nahezu unverändert geblieben.
Die zehn häufigsten Diagnosen (nach AU-Tagen pro 100 beschäftigte Versicherte) waren in 2022:
ICD-10
Diagnose
AU-Fälle pro 100 beschäftigte Versicherte
AU-Tage pro 100 beschäftigte Versicherte
J06
akute Infektionen der oberen Atemwege
48,6
359
M54
Rückenschmerzen
8,8
126
F32
depressive Episode
1,6
98
U07
COVID-19
9,3
89
F43
Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen
3,1
87
B34
Viruskrankheit nicht näher bezeichneter Lokalisation
5,9
44
F48
andere neurotische Störungen
1,4
41
F33
rezidivierende depressive Störungen
0,6
A09
onstige und nicht näher bezeichnete Gastroenteritis und Kolitis infektiösen und nicht näher bezeichneten Ursprungs
7,6
35
M75
Schulterläsion
1
Doch wie lassen sich die Trends erklären – und welche Möglichkeiten, hier gegenzusteuern, gibt es? Dirk Rennert, Diplom-Psychologe und Projektleiter Gesundheitsberichterstattung beim BKK-Dachverband, dazu auf Anfrage: „Für den sukzessiven Anstieg des Krankenstandes gibt es vielfältige Gründe. Eine wichtige Ursache dürfte der demografische Wandel sein.“ Mit zunehmendem Alter steige rein statistisch die Wahrscheinlichkeit, dass jemand von einer oder mehreren, meist chronischen bzw. progredienten Erkrankungen betroffen sei und deutlich längere krankheitsbedingte Ausfallzeiten habe.
„Allerdings sehen wir in unseren Daten auch, dass es zusätzlich sehr stark von der konkreten beruflichen Tätigkeit des Betroffenen abhängt, wie sehr sich dies am Ende im jeweiligen Krankenstand niederschlägt“, weiß Rennert. „Mit anderen Worten: Es gibt Berufe, in denen man auch in fortgeschrittenem Alter gesund arbeiten kann und andere, wo dies eher nicht der Fall ist.“ Diesem altersbedingten Prozess lasse sich beispielsweise mit einem guten und frühzeitigen betrieblichen Gesundheitsmanagement (BGM) entgegenwirken. Die Studienlage zeige, dass „Verhaltensprävention allein wenig bewirkt, wenn sie nicht mit Verhältnisprävention kombiniert wird“. Während Verhaltensprävention mit Beratung und Training das menschlich Verhalten verbessern soll, hat Verhältnisprävention die Gestaltung der Arbeits- und Lebensbedingungen zum Ziel.
Rennert: „Es zeigt sich, dass gleichaltrige Beschäftigte, die in unterschiedlichen Berufen tätig sind, sehr unterschiedliche Krankenstände aufweisen. Deshalb ist es bei der Planung von BGM zusätzlich wichtig, die tätigkeitsspezifischen Belastungen zu berücksichtigen.“ Hier sei noch viel Luft nach oben. „Leider hat das Thema in vielen Unternehmen nach wie vor keine hohe Priorität“, so Rennert. Oft gebe es „unspezifische Verhaltensmaßnahmen“ wie den Yoga-Kurs außerhalb der Arbeitszeit. „So lange hier nicht ein Umdenken stattfindet und man weiterhin gesundheitspolitisch in kurativen statt in präventiven Denkmustern verharrt, wird sich auch an der Entwicklung des Krankenstandes insgesamt nichts Wesentliches ändern“, lautet seine Prognose.
Ein Blick über den Tellerrand: Ältere Zahlen zeigen, dass die Deutschen im internationalen Vergleich häufig krank sind. Der Anteil aller Arbeitnehmer mit weniger als fünf Krankheitstagen im Jahr ist bei uns vergleichsweise gering.
Credit: Statista
Daraus lässt sich keineswegs ableiten, dass andere Länder bessere Maßnahmen zum Schutz von Angestellten im Job haben. Vielmehr unterscheiden sich die sozialrechtlichen Rahmenbedingungen stark. Beispielsweise existiert in den USA auf Bundesebene kein einheitliches System für Arbeitsunfähigkeit mit Lohnfortzahlung. Die Regelungen variieren je nach Bundesstaat, Arbeitgeber und Verträgen mit der Krankenversicherung. In Spanien wiederum können sich Arbeitnehmerinnen bei Regelschmerzen aufgrund eines neuen Gesetzes mit Lohnfortzahlung vom Arzt ohne wirtschaftliche Einbußen krankschreiben lassen. Generell erhalten Angestellte erst ab dem vierten Tag Krankengeld – bei Menstruationsbeschwerden ist das ab dem ersten Tag möglich.
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