Patienten müssen zu lange auf Psychotherapieplätze warten: Diesen Vorwurf hört man immer wieder. Aber wie sieht es wirklich aus mit der Versorgung – ist die Lage nur halb so wild?
In Deutschland an eine Psychotherapie zu kommen, ist oft gar nicht so einfach. Der Erstkontakt ist schwer, danach in eine regelmäßige therapeutische Versorgung aufgenommen zu werden noch schwerer. Und alles davon braucht jede Menge Zeit. Klingt bekannt? Sollte es aber laut einer aktuellen repräsentativen Umfrage nicht – denn die psychotherapeutische Versorgung in Deutschland ist erheblich besser als vermutet.
In der Vorab-Pressekonferenz des Deutschen Kongresses für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie erklärt Prof. Johannes Kruse, Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Universitätsklinikum Gießen und Marburg, dass die Wartezeiten auf einen Therapieplatz deutlich kürzer sind, als in bisherigen Studien vermutet. Zu diesem Ergebnis kamen die Forscher durch eine bevölkerungsrepräsentative Stichprobe, in der über 32.000 Personen telefonisch befragt wurden, ob sie in den Jahren 2012–2020 versucht hätten, Kontakt mit einem Psychotherapeuten aufzunehmen. 2.200 Teilnehmer bejahten dies und davon konnten 91,7 % ein persönliches Erstgespräch mit einem Therapeuten führen. Die 8,3 %, die keinen Therapeuten erreichten, gaben als Gründe fehlende Gesprächstermine der Therapeuten, zu lange Wartezeiten und eigene Unsicherheit an.
Die Personen, die einen Kontakt zu einem Therapeuten aufgenommen haben, warteten in der Regel weniger als drei Monate auf ein Erstgespräch, 60 % der Befragten warteten sogar weniger als vier Wochen. Die Wartezeit auf eine danach anschließende regelmäßige Psychotherapie lag ebenfalls bei 96 % der Befragten bei unter drei Monaten – 85 % der Befragten empfanden diese Wartezeiten als angemessen. „Deutschland ist hier sehr gut aufgestellt, auch wenn man international mit Kollegen spricht“, sagt Kruse. „Um das ganze mal in Relation zu setzen: Wir haben ungefähr 38.000 Psychotherapeuten in der kassenärztlichen Versorgung in Deutschland, dazu kommen noch einige, die ausschließlich privat Abrechnen – verglichen mit ungefähr 55.000 Hausärzten.“
Diese Zahlen zeichnen erst mal ein deutlich positiveres Bild der psychotherapeutischen Versorgung, als man üblicherweise sieht. Die Diskrepanz zu den deutlich längeren Wartezeiten, die aus anderen Studien resultieren, erklärt Kruse damit, dass „zwischen dem Erstkontakt und der Aufnahme der Richtlinienpsychotherapie eine Reihe von ärztlichen oder psychologischen Leistungen erfolgt, die die Patientinnen und Patienten bereits der Psychotherapie zuordnen.“
Dabei darf aber nicht vergessen werden, dass immerhin über 8 % der Therapiesuchenden keinen persönlichen Erstkontakt mit einem Therapeuten hatten. Außerdem warteten um die 10 % der Befragten länger als drei Monate auf einen Therapieplatz. Je nach Dringlichkeit und Krankheitsbild kann das natürlich zu einem großen Problem werden. Zumal viele psychologische Krankheitsbilder es den Patienten erschweren, sich proaktiv über lange Zeit um einen Therapieplatz zu bemühen. Eine Risikogruppe kristallisierte sich aus der Befragung jedoch besonders heraus: „Über 60 % der Personen, die keine oder späte Therapieplätze bekommen, haben zusätzlich zu ihren psychischen Beschwerden auch chronische physische Beschwerden“, sagt Kruse. „Hier gilt es anzusetzen, gerade diesen Patienten den Zugang zu einer Psychotherapie zu erleichtern.“
Kruse erklärt, dass ein Grund für die schlechte Versorgung dieser Patientengruppe sein könnte, dass sie sich selbst oft nicht als Patienten verstehen, die eine Psychotherapie benötigen würden. „Viele Menschen denken, dass man nach einem Herzinfarkt durchhängt und massive Ängste entwickelt, sei völlig normal. Die denken gar nicht dran, dass sie eigentlich psychische Probleme haben. Da müssen Hausärzte und somatisch arbeitende Kollegen Aufklärungsarbeit leisten, damit der Weg von der somatischen in die psychotherapeutische Versorgung verbessert wird.“
Das sei besonders deswegen wichtig, weil eine psychische Erkrankung zusätzlich zu körperlichen Beschwerden gerade im Alter die Lebenserwartung massiv beeinflussen kann. „Die Kombination aus beispielsweise einer Depression und einer koronaren Herzkrankheit oder Diabetes verringert die Lebensqualität und verkürzt die Lebenserwartung“, mahnt Kruse. Das würde außerdem dazu führen, dass die Kosten im System explodieren – nicht wegen der psychischen, sondern wegen der somatischen Versorgung. „Daher ist es besonders wichtig, dieser Gruppe viel Aufmerksamkeit zu schenken“, konkludiert Kruse.
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