Viele Alten- und Pflegeheime gaben sich die Jahre über mit sedierten Patienten zufrieden. Das muss nicht sein, zeigt eine Initiative aus München. Gemeinsam wollen Ärzte, Pflegekräfte und Juristen Psychopharmaka-Gaben auf ein sinnvolles Maß reduzieren. Apotheker wurden dabei glatt übersehen.
Hierzulande gibt es 2,54 Millionen Pflegebedürftige. Etwa 29,7 Prozent werden in Heimen betreut, Tendenz steigend. Als großes Problem gelten Menschen mit Demenzerkrankungen. Von bundesweit rund 1,1 Millionen Betroffenen erhielten 240.000 zu Unrecht Psychopharmaka, berichtete das Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen schon vor mehr als zwei Jahren. Jetzt gibt es neue Zahlen aus Süddeutschland.
In München hat die Fachstelle für Qualitätssicherung in der Altenpflege (FQA) kürzlich Zahlen vorgelegt. Demnach erhalten 51,28 Prozent aller Bewohner von Pflegeeinrichtungen in der Landeshauptstadt sedierende Pharmaka. Untersucht wurden 51 Einrichtungen mit 6.394 Menschen. „Die Situation dürfte sich in ähnlicher Form überall in Deutschland wiederholen“, sagt Dr. Manfred Stegger. Er ist Vorstandsvorsitzender der Bundesinteressenvertretung der Nutzerinnen und Nutzer von Wohn- und Betreuungsangeboten im Alter (BIVA). Ausgehend von den Münchener Zahlen erhielten laut BIVA bundesweit rund 400.000 alte Menschen regelmäßig Psychopharmaka – oft zur Ruhigstellung. Im Qualitätsbericht heißt es, weitere zehn Prozent bekämen Präparate zusätzlich als Bedarfsmedikation. „Das Bewusstsein über die Themenfelder Nebenwirkungen, Wechselwirkungen, Suchtpotential ist grundsätzlich zu wenig ausgeprägt“, so ein Fazit.
Als weiteres problematisches Feld kritisieren Forscher 74 Prozent aller Vergabezeitpunkte. Patienten bekommen Bedarfsmedikationen abends (8 Prozent) oder nachts (66 Prozent). Psychopharmaka statt Personal? Der Verdacht liegt nahe. Aus pharmazeutischer Sicht ein heikles Vorgehen: Lorazepam, das besonders häufig verordnet wurde, wirkt sechs bis zwölf Stunden im Körper. Nach später Gabe des Benzodiazepins kommt es zu „Hang-over“-Effekten inklusive Sturzgefahr am nächsten Tag. Für die Lebensqualität Betroffener ist dies auch nicht gerade förderlich. Kreisverwaltungsreferent Wilfried Blume-Beyerle spricht vom „bedenklichen“ Umgang mit diesen Präparaten. Grundlegende Strategien, um ärztliche beziehungsweise apothekerliche Empfehlungen mit pflegerischem Handeln in Einklang zu bringen, fehlen häufig.
Genau hier soll die „Initiative München, Psychopharmaka in Alten- und Pflegeheimen“ Abhilfe schaffen. Als wichtige Grundlage berufen sich Richter auf das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB), Paragraph 1906, Absatz 4: Der Gesetzgeber stellt mechanische Fixierungen und medikamentöse Sedierungen auf eine Stufe, falls Psychopharmaka keinem therapeutischen Zweck dienen. In der Landeshauptstadt München ist das Amtsgericht zuständig, wo jeder Antrag geprüft wird. Hinsichtlich der Medikamentengabe seien Anträge „nur in verschwindend geringer Zahl“ eingegangen. Das soll sich durch gemeinsame Aktivitäten des bayerischen Justizministeriums, des bayerischen Ministeriums für Gesundheit und Pflege, örtlicher Betreuungsbehörden, des Medizinischen Diensts der Krankenkassen Bayern sowie des Bayerischen Hausärzteverbands ändern. Sie planen am 6. November 2014 einen Aktionstag. Richter hoffen, durch mehr Transparenz und durch eine bessere Zusammenarbeit entsprechende Verschreibungszahlen zu verringern.
Als wichtigste Maßnahme plant das Amtsgericht, enger mit Hausärzten und mit dem MDK zu kooperieren, um auf die Genehmigungsbedürftigkeit medikamentöser Sedierungen hinzuweisen. Hier klaffen riesige Informationslücken, und zwar schon bei der Fixierung durch Gurte beziehungsweise Gitter: In seinem dritten Bericht zur Pflegequalität kritisiert der Medizinische Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDS), 11,2 Prozent aller mechanischen Zwangsmaßnahmen fänden ohne Einwilligung oder richterliche Genehmigung statt. Deutlich höher dürfte die Dunkelziffer bei medikamentösen Ruhigstellungen sein. Verantwortliche aus München wollen Abhilfe schaffen: Künftig muss das Betreuungsgericht im Zuge von Gutachten zu Psychopharmaka und zu deren Wirkung Stellung beziehen. Darüber hinaus soll jeder neu eingehende Antrag von Verfahrenspflegern, also medizinisch und juristisch geschulten Fachkräften, hinsichtlich der Psychopharmakotherapie untersucht werden. Sie sollen als Schnittstelle mit Ärzten, Pflegekräften und Angehörigen auf Augenhöhe gemeinsam Alternativen zur Sedierung entwickeln. Auf dieser Basis formulieren Verfahrenspfleger schließlich eine Empfehlung. Dass interdisziplinäre Herangehensweisen Erfolg bringen, zeigt der sogenannte „Werdenfelser Weg“, benannt nach einer oberbayerischen Region. Dort haben Gerichte und Betreuungsbehörden Wege gefunden, um freiheitsentziehende Maßnahmen auf das medizinisch gerechtfertigte Minimum zu reduzieren. Kernpunkt ist auch hier, Angehörige der Pflegeberufe als Verfahrenspfleger einzusetzen. Gemeinsam gelang es, die Zahl an Fixierungen von zwölf Prozent (2011) auf weniger als fünf Prozent (2013) zu verringern.
Der interdisziplinäre Ansatz bei Psychopharmaka hat jedoch Schönheitsfehler: Erstaunlicherweise ist eine Beteiligung von Apothekern auf direktem Wege nicht vorgesehen. Martha Schlüter von der Bayerischen Landesapothekerkammer zu DocCheck: „Die Kammer wurde bei dem Projekt „Initiative München, Psychopharmaka in Alten- und Pflegeheimen“ von Seiten der Initiatoren im Hinblick auf eine Teilnahme nicht angesprochen.“ Es gibt für Apotheker noch viel zu tun, um sichtbarer zu werden: ein Thema für das neue Leitbild.