Der Ärztemangel in Deutschland ist real und erfordert Lösungen: Eine davon ist die Anwerbung von Kollegen aus dem Ausland. Das kann aber gravierende Folgen haben.
Wer den Begriff „Ärztemangel“ liest und eine exklusive Neuigkeit erwartet, müsste vermutlich rund 15 bis 20 Jahre in die Vergangenheit reisen – und wäre auch dort nicht ganz überrascht. Und doch: Die Unterbesetzung im medizinischen Sektor wird immer spürbarer – auch für Ärzte selbst, die immer häufiger angehalten sind, ihre Praxen länger offen zu halten oder bis ins betagte Alter weiterzuarbeiten. Eine zunehmend praktizierte Lösung für das Problem ist die Anwerbung aus dem Ausland. Diese scheint nicht nur immer beliebter, sondern birgt auch Gefahren, wie Ärzte wissen.
Ende 2023 sind hierzulande 63.763 Ärzte ohne deutschen Pass registriert. Das sind doppelt so viele wie 2013 und mehr als 6 mal so viele wie 1993. Die häufigsten Herkunftsländer sind Syrien (6.120), Rumänien (4.668), Österreich (2.993), Griechenland (2.943), Russland (2.941) und die Türkei (2.628).
Die Geschwindigkeit mit der an- und abgeworben wird, macht offensichtlich, dass es sich um den letzten Pfeil im Köcher politischer Lösungen handelt – und, dass dieser sitzen muss. Doch selbst der Minister ist davon nicht überzeugt:
Auch ohne den ethischen Aspekt, dass man den Nachbarländern das Personal nimmt, pochen Ärzte darauf, dass dies kein Dauerzustand sein könne – sich im Gegenteil Gefahren ergeben können, wenn die neuen Kollegen nicht ausreichend integriert sind.
Jürgen Hoffart, Hauptgeschäftsführer der Landesärztekammer Rheinland-Pfalz, warnte zuletzt, dass mangelnde Deutschkenntnisse dazu führen könnten, dass ein Brustschmerz als Bauchschmerz verstanden würde und ein Herzinfarkt so unerkannt bleiben könnte.
Eugen Brysch, Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, ergänzt: „Alltagssprachliche Deutschkenntnisse sind deshalb für ausländische Mediziner unabdingbar. Sonst sind Missverständnisse vorprogrammiert, die zu Paralleluntersuchungen, aber auch zu Behandlungsfehlern führen können.“
Ähnliche Problembereiche der Integration machte auch eine Studie zur Integration der Ärzte im deutschen Gesundheitswesen aus: Neben sprachlichen Herausforderungen gelte es Kenntnisse des Gesundheitssystems, medizinische Kompetenzen, Hierarchie- und Teaminteraktionen sowie Aspekte der Diskriminierung aufzuarbeiten. So müsse es laut Studienautoren Qualifizierungsprogramme geben, die eben jene Punkte bedienen und bereits eng an die Rekrutierungsprogramme des Bundes angegliedert sind.
Eine weitere Studie analysierte die Integration von Hausärzten und machte weitere mögliche Schwierigkeiten aus. So kamen die Autoren hierin zum Schluss, dass mit Blick auf Sprachkenntnisse auch das Verstehen von Dialekten sowie bestimmte schriftliche Ausdrücke bekannt sein müssten. Ebenso sollten die Schwierigkeiten in der Informationsbeschaffung sowie komplizierte Kommunikation mit deutschen Behörden thematisiert worden sein. Lösungsansätze könnten Vorbereitungskurse oder konkrete Ansprechpartner vor Ort sein. Neben den Gefahren in der Versorgung bestünde bei ausbleibender Integration die Gefahr, dass auch diese Fachkräfte wieder abwandern, so die Autoren.
Das Positive zuerst: Derzeit gibt es in Deutschland insgesamt 575.500 Ärzte, davon sind 421.303 berufstätig. Das sind etwa 1,2 % mehr als im Vorjahr und circa 2,5 % mehr als vor der Corona-Pandemie. Damit kommt man hierzulande auf 4,5 Ärzten pro 1.000 Einwohner und steht so in Europa und der Welt auf Platz 3 in Sachen Arztdichte. So viel zu den zunächst „guten“ Entwicklungen.
Immer mehr Ärzte sind jedoch in Teilzeit aktiv - insgesamt 57.793 Ärzte und Psychotherapeuten. Das entspricht einem Zuwachs von 285 % gegenüber 2012. Auch wählen mehr junge Ärzte das Angestelltenverhältnis. 46.109 Ärzte sind angstellt – ein Plus von 141 %. Daneben steigt auch die Abwanderungsrate ins Ausland – zuletzt wanderten rund 2.300 Ärzte aus – eine Steigerung um 20 % gegenüber dem Vorjahr.
Dazu kommt eine besorgniserregende demografische Entwicklung: So sind 9 % der praktizierenden Ärzte 65 Jahre alt – oder älter. 46 % sind gar 50 Jahre oder älter. Dass sich das bereits auf die Versorgung ausschlägt, zeigt die Menge an geschlossenen Praxen – so sind bereits in 2022 7,6 % weniger Praxen vorhanden als 2012, 4.800 Hausarztsitze unbesetzt und insgesamt ein Mangel von rund 15.000 Medizinern zu verzeichnen. Allein der Berufsverband der Kinder- und Jugenärzte rechnet damit, dass bis 2025 ein Viertel seiner Ärzte aus dem Berufsleben ausscheidet.
Eine Analyse dazu, wie es zu der Entwicklung kommen konnte, ist so vielschichtig wie das Gesundheitssystem komplex ist. Mit Blick auf die berufspolitischen Entwicklungen mögen Trends wie eine zunehmende Bevorzugung von Teilzeit- und Angestelltenbeschäftigungen ein Erklärungsansatz sein. Daneben sind viele Berufseinsteiger von der überbordenden Bürokratie und dem aktuellen System der Budgetierung verschreckt und legen vermehrt Augenmerk auf eine Work-Life-Balance und entsprechende Arbeitszeiten. Und trotz dessen: Von den aktuell praktizierenden Ärzten sind rund 55 % unzufrieden mit den Rahmenbedingungen ihrer Arbeit.
Wagt man nun einen hoffnungsvollen Blick auf die Studierendenzahlen, wird man auch hier schnell ernüchtert: Zwar steigt die Zahl der Studierenden peu a peu – zuletzt um 2,7 % insgesamt. Doch bereits der Blick auf die Studieninteressierten zeigt, dass der Beruf zumindest nicht an Attraktivität gewinnt: Gab es 2020 noch insgesamt 62.978 Bewerber auf die knappen Plätze, waren es 2023 noch 51.268. Immerhin: Es gibt Potenzial, die Absolventenzahlen zu steigern.
Dass letztlich nicht mehr Ärzte aus deutschen Unis kommen, ist derweil ebenso wenig neu wie das Mantra des Marburger Bundes und anderer und dem Ruf nach einer Steigerung nach verfügbaren Plätzen. Seit mehr als 10 Jahren pochen die Ärztevertreter, die Anzahl der Studienplätze um gut 10 % zu steigern. Die letzte medienwirksame Zahl von 5.000 neuen Studienplätzen hatte es derweil immerhin bis ins BMG geschafft und schien ein Echo zu erzeugen – ungünstig nur, dass die Aufstockung der Plätze Ländersache ist. Und auch hier macht einzig Bayern einen vagen Vorstoß und kündigt einen an den Unis „in den kommenden Jahren“ an.
„Wenn wir nicht die Zahl der Medizinstudienplätze um 5.000 erhöhen, werden wir die Babyboomer-Generation in naher Zukunft nicht mehr angemessen versorgen können“, stimmt Lauterbach den Ärztevertretern zu.
Dass die verschiedenen Ansätze zur Vorbeugung eines noch extremeren Mangels nun von Bundes- wie von Landesseite sowie von ärztlicher Selbstverwaltung von drei Seiten aus angegangen werden müssten, mag, ebenso wie die Entwicklung der letzten Jahre bei gleichem Wissensstand, ernüchtern. Politische Lippenbekenntnisse bei Ausbleiben von entsprechenden Verordnungen ein weiterer Punkt auf der Pessismusskala.
Bildquelle: Towfique barbhuija, Unsplash