Die Krankheiten alter Menschen zu behandeln, hat wenig Sinn, wenn dabei altersbedingte Einschränkungen nicht berücksichtigt werden. Sie zu erkennen, ist Aufgabe des geriatrischen Assessments. Einen Überblick gibt die aktualisierte Leitlinie.
Alte Menschen kann man erfolgreicher behandeln, wenn man ihre körperliche, geistige und seelische Verfassung berücksichtigt. Diese Faktoren hat erstmals die britische Ärztin Marjory Warren systematisch erfasst. Ab 1943 publizierte sie ihre Beobachtungen und begründete damit die geriatrische Medizin. Seitdem sind unzählige Verfahren entwickelt worden, die den Zustand älterer Menschen ermitteln. Zum Standard wurde das geriatrische Assessment in den 80er Jahren, als man seinen Nutzen für eine bessere Versorgung nachwies. Der Zuwachs an neuen Verfahren ist nach wie vor so groß, dass die knapp 100 Seiten starke Leitlinie Geriatrisches Assessment der Stufe 2 als Living Guideline konzipiert ist – die neueste Version ist dieses Jahr erschienen.
Die Leitlinie trifft kaum Aussagen über die Evidenzbasierung der Verfahren, weil es wenig entsprechende Studien gibt. Außerdem betont sie, dass die Liste der aufgeführten Verfahren nicht vollständig ist und dass nicht erwähnte Verfahren ebenso nützlich sein können. Die Leitlinie wurde unter der Federführung der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie erarbeitet und im Umlaufverfahren abgestimmt. Adressaten sind alle, die in geriatrischen Einrichtungen Menschen versorgen – also explizit nicht nur Ärzte.
Das geriatrische Assessment hat drei Stufen: In Stufe 1 geht es um die Frage, ob jemand einfach alt, oder schon geriatrischer Patient ist. Stufe 2 zielt darauf ab, Art und Größe der Probleme zu erkennen. In Stufe 3 werden die Beeinträchtigungen weiter abgeklärt. Die Leitlinie bespricht Verfahren der Stufe 2, wobei die Grenzen offenbar nicht trennscharf sind. So erfüllt das hausärztlich-geriatrische Basisassessment (GOP 03360) als Stufe 1 einerseits die Funktion eines geriatrischen Screenings, andererseits kann ein Hausarzt mit seinem Vorwissen bereits Probleme konkret benennen, wodurch Merkmale der Stufe 2 erfüllt sind.
Die Leitlinie bespricht insgesamt 57 Verfahren in den 11 Bereichen Sehen/Hören, Selbsthilfefähigkeit, Mobilität/Motorik, Kognition/Delirerfassung, Depressivität, soziale Situation, Schmerz, Ernährung/Dysphagie, Kontinenz, Schlaf und Substanzmissbrauch/Sucht. Die Verteilung der Verfahren ist dabei sehr unterschiedlich. Der Bereich soziale Situation beispielsweise ist ohne Verfahren nur in einem kurzen Abschnitt beschrieben, weil Faktoren wie Wohnsituation, soziale Kontakte und Aktivitäten, benötigte und vorhandene Hilfsmittel und pflegerische Unterstützung sowie rechtliche Verfügungen durch die beiden bekannten Sozialfragebögen nicht vollständig abgedeckt sind und deshalb überwiegend hausinterne Instrumente genutzt werden.
Im Bereich Kognition dagegen stellen die Autoren 15 verschiedene Verfahren vor: vom schnellen und simplen Six-Item-Screener (SIS) für die Aufnahmesituation über die Mini Mental State Examination (MMSE), die für die klinische Demenzdiagnostik weltweit am häufigsten eingesetzt wird, bis hin zum anspruchsvollen Global Deterioration Scale (GDS). Wie ausgefeilt die Verfahren teilweise sind, sieht man etwa daran, dass die Leitlinie allein fünf unterschiedliche Uhren-Tests aufführt.
Für jeden Bereich werden die Verfahren gemeinsam beschrieben und im Anschluss jeweils einzeln in standardisierten Tabellen charakterisiert. In der Tabelle sind folgende Punkte aufgeführt: mittlerer Zeitaufwand, Lernaufwand für die Untersucher, Durchführende, Schweregrad, Gütekriterien, Begründung der Aufnahme in die Leitlinie, Limitation/Forschungsbedarf und Literatur. Nicht beschrieben wird, wie die Verfahren konkret ablaufen, also welche Fragen ein Erhebungsbogen beispielsweise hat oder welche Aufgaben im MMSE zu bewältigen sind.
Bildquelle: Jack Finnigan, Unsplash