„Mein Name ist Melanie. Ich bin schwanger, und plötzlich kommt unten viel Blut raus. Dunkelrot. Und ich habe auch plötzlich Schmerzen“ – ein Notruf, wie ihn wohl niemand erhalten will. Schnell wird klar: Hier geht es um zwei Leben.
Melanie streichelte über ihren Bauch und löschte das Licht im Schlafzimmer. Sie und ihr Mann Tony träumten von der Zukunft, von einem Lachen, das bald ihr Zuhause erfüllen würde. Bevor er zur Nachtschicht ging, hatte er an diesem Abend Versprechen an Melanies Bauch geflüstert. Die Angst vor den unbekannten Herausforderungen der Elternschaft war zwar da, die Vorfreude auf ihr kleines Wunder jedoch überwog um Längen. Als Melanie die kritische Grenze der zwölften Woche überschritten hatte, zog das Paar es endlich durch: Ein großes alleinstehendes Haus auf dem Land, ein Garten mit Kletterturm für ihre Antonia. Einige Tage zuvor hatte Tony erst das Babyzimmer fertiggestellt.
Genau – es würde ein Mädchen werden. Melanie musste es bestimmen lassen, denn sie wollte vorbereitet sein. Sie hatte ihrem Mann nichts von den dumpfen Bauchschmerzen gesagt. Sie würden bestimmt bald wieder vorübergehen. Wahrscheinlich litt sie an Blähungen oder hatte etwas vom Abendessen nicht vertragen. Aber die Schmerzen nahmen zu. Und irgendwann wurde es unerträglich – und sie fing an zu bluten. Um 1 Uhr griff sie endlich zum Hörer.
„Die Rettungsleitstelle, guten Morgen.“
„Melanie Martin. Ich bin schwanger, und plötzlich kommt unten viel Blut raus. Dunkelrot. Und ich habe auch plötzlich Schmerzen.“
„In welcher Woche sind Sie?“
„In der siebenunddreißigsten. Mein Unterleib tut höllisch weh.“ Sie stöhnte.
„Das System zeigt Sie in der Narzissenstraße in Scheben an. Ist das korrekt?“
„Das stimmt. Bitte beeilen Sie sich.“
„Ich schicke einen Rettungswagen und einen Notarzt zu Ihnen. Legen Sie sich flach hin und überkreuzen Sie die Beine.“ Der Notrufsachbearbeiter legte auf – und das Schicksal hatte den Hammer fallen lassen.
Ein Uhr fünfzehn. Unser RTW kam mit einem Ruck zum Stehen. Beim Aussteigen strömte mir sommerliche Landluft in die Nase. Das Team Rettungswagen bestand diesmal aus meinem Kollegen Mike und mir. Eine Praktikantin war auch mit an Bord, um das Rettungswachenpraktikum für ihre Ausbildung zur Rettungssanitäterin zu absolvieren. Sie hieß Kathrin und war Hebamme.
Kathrin hatte selten miese Laune. Meistens sah ich sie lachen oder irgendwelche Scherze machen. Als wir das Wohnzimmer von Melanie betraten, versteinerte sich Kathrins Mimik. Sie trat auf die Patientin zu, die auf ihrer Couch lag. Normalerweise bin ich als Beifahrer des Rettungswagens derjenige, der die Patienten untersucht. In diesem Fall aber trete ich gerne zurück, denn Kathrin ist als Hebamme eindeutig die kompetentere Expertin für diesen Notfall. Sie gehört in diesem Fall als Teamleitung an die Notfallpatientin.
„Welche Woche?“, sagte sie. „Ich bin in Woche siebenunddreißig“, antwortete Melanie, die aussah wie ein reinweißer Kissenbezug, „bis jetzt war alles in Ordnung.“ Kathrin fixierte mich mit ihren Augen und nickt gleichzeitig dem EKG-Gerät zu. Ich zog die Blutdruckmanschette aus der Seitentasche, legte sie an und drückte auf NIBP. 80 zu 40, Frequenz 125. Nicht gut. Mike ging zur Haustür, denn Notarzt Ralf und Rettungssanitäterin Ronja waren endlich eingetroffen. Kathrin palpierte Bauch und Uterus. Melanie schrie auf.
„Können Sie bitte meinen Mann anrufen? Er arbeitet bei BMW und hat dort Nachtschicht.“
„Das machen wir, Frau Martin. Aber zuerst kümmern wir uns um Sie, einverstanden?“, sagte Kathrin. Ein weiterer Schwall Blut kam aus der Gebärmutter.
„Oh Gott, mir geht’s nicht gut“, sagte Melanie und atmete stoßweise.
„Der Druck ist bei 70“, sagte Mike. Der Monitor piepte mit einer Frequenz von 130 Schlägen pro Minute. Mike nahm ihr das Kissen weg, drapierte ihren Oberkörper flach auf die Couch und baute der Patientin eine Schocklagerung aus einem Haufen Kissen.
Kathrin sah zuerst mich an, dann den Notarzt, der nur nickte, denn gynäkologische Notfälle zählten scheinbar genauso wenig zu seinen Favoriten, wie zu meinen. Ich riss den Rucksack auf, nahm das Infusionsset und reichte Notarzt Ralf wortlos den Stauschlauch, Desinfektionsmittel und eine graue Viggo. Dass Melanie die Grenze zur Instabilität längst überschritten hatte, musste niemand an der Einsatzstelle erwähnen. Mike versuchte sich an der gegenüberliegenden Armseite und platzierte zumindest einen grünen Zugang. Kathrin stülpte ihr eine Sauerstoffmaske über. Es zischte. Alle arbeiteten parallel. Niemand sagte etwas. Dann brachte Ronja endlich das Tragetuch, um Melanie in den Rtw zu tragen.
Dass hier eine Abruptio placentae vorlag, war längst allen klar. Besser bekannt als Plazentaablösung, bedeutet diese Situation sowohl für die Mutter als auch für das Kind akute Lebensgefahr. Hierbei kommt es zur vorzeitigen Ablösung der Plazenta von der Uteruswand. Bei Melanie könnte ein Sturz vom Küchenstuhl dafür verantwortlich sein, der einige Wochen zuvor beim Fensterputzen stattgefunden hat. Das Ungeborene könnte sich nun in einer fetalen Notlage befinden und der fetale Sauerstoffaustausch könnte beeinträchtigt sein. Es entsteht eine Blutung, die auch noch dadurch maskiert sein kann, dass sich viel Blut hinter der Plazenta sammelt.
Bei hämodynamischer Instabilität der Mutter ist ein sofortiger Kaiserschnitt indiziert – den aber in einem Wohnhaus, auf dem Land, unter derartigen Bedingungen niemand durchführen konnte. Für uns kam nur ein möglichst schneller Transport in eine Klinik mit allen Abteilungen in Frage.
Und an dieser Stelle standen wir vor dem nächsten Problem: Zu diesem Zeitpunkt boten die beiden nächstgelegenen Häuser auf der einen Seite Versorgungsstufe 2 ohne Kinderabteilung oder Gynäkologie und auf der anderen Seite eine reine Frauenklinik mit Gynäkologie. Beide Häuser befanden sich gleich weit von Melanies Haus entfernt, jedoch in völlig unterschiedliche Richtungen.
Die Frauenklinik bot die beste Chance für das Kind, doch dort könnte Melanie sterben. Das andere Krankenhaus war ausgerüstet, um Melanies Leben zu retten, aber auf Kosten ihres Babys. Jeder Pulston des EKG-Monitors schien wie ein Countdown zu klingen, der unaufhaltsam gegen das Schicksal lief. In meinem Kopf schienen die Gedanken gegen meine Schädelkalotte zu wummern. Wie sollten wir nur zwischen Mutter und Kind wählen? Was ist in diesem Moment richtig?
Die Worte von Melanie hallten in meinem Kopf wider. Sie hatte Angst – zu recht. Die werdende Mutter war mittlerweile so instabil, dass wir keine Zeit verlieren durften. Möglicherweise war das Kind zu diesem Zeitpunkt längst tot und wenn wir nun in die Frauenklinik fahren, dann würden wir beide verlieren. Ein Blick in Kathrins Augen zeigte mir, dass sie ebenso zerrissen war. Mike und Ronja sammelten in der Wohnung noch unser restliches Equipment zusammen. Notarzt Ralf sah zum Seitenfenster hinaus und schien zu denken. Mir fiel ein, dass auch er eine schwangere Frau zuhause hat.
Wir fühlten uns in diesem Moment nicht mehr wie Retter, sondern wie Richter, die über das Unmögliche zu urteilen hatten. Jede Sekunde des Zögerns schien die Familie Martin näher an den Rand des Abgrunds zu bringen. Ich griff zum Funkgerät, drückte die Taste für einen „dringenden Sprechwunsch“. Dann wartete ich auf eine Reaktion der Rettungsleitstelle. Wir wussten nun, wo wir hinfahren müssen.
Auf den Status Null antwortete die Leitstelle mit einem Quittungston, der kaum hörbar aus dem Lautsprecher drang – wie das Echo einer längst vergessenen Melodie. Der Disponent der Rettungsleitstelle meldete sich sofort.
„1/83/1?”
„Wir brauchen den Kreissaal der nächstgelegenen Frauenklinik. Weiblich, siebenunddreißigste Schwangerschaftswoche. Aktuell laufen Katecholamine. Noch nicht intubiert, nicht beatmet. Die Patientin ist instabil.”
„1/83/1, verstanden. Ich melde Sie an.”
Der Disponent hinterfragte unsere Entscheidung nicht und wiederholte den Zustand und die Daten der Patientin. „Fahr!”, schrie ich Mike zu, der den Motor längst gestartet hat und nur auf ein Kommando wartete.
Wir nahmen an, dass auch das Ungeborene in höchster Gefahr schwebte. Wir hätten sowohl einen Schockraum für Melanie benötigt als auch neonatologische Intensivmedizin für Antonia. In guter Erreichbarkeit und jeweils gleich von Melanies Haus entfernt befanden sich zwei Kliniken. Aus Gründen der Instabilität konnten wir aber nur eine von beiden berücksichtigen und standen unter erheblichem Zeitdruck und Zugzwang. Wir waren schachmatt inmitten eines ethischen Dilemmas.
Melanie blutete. Und wir bekamen es nicht in den Griff. Wir konnten nichts mittels Gaze austamponieren, da das Kind zwischen Plazenta und Eingang lag. Niemand von uns hatte die Versorgung eines instabilen Frühchens im Kreuz, geschweige denn einen Kaiserschnitt außerhalb einer Klinik. Der Neugeborenen-Notarzt hätte mindestens 50 Minuten Anfahrt gehabt. Und um diese Uhrzeit einen Gynäkologen zur Unterstützung irgendwo herzuzaubern, funktionierte auch nicht. Melanie sah ins Leere. Die Pupillen strebten Richtung Decke, so dass die Iris fast nicht mehr zu sehen war, und das Gesicht sah aus wie damals das weiße Esspapier, das ich als Kind für zehn Pfennig im Büdchen kaufte und dann durchsah wie durch ein beschlagenes Fenster. Ralf ließ seine Kladde unter den Begleiterstuhl fallen und kam nicht mehr dran, bis wir rückwärts in die enge Einfahrt der Frauenklinik rangierten. Auch er als Notarzt konnte hier nicht viel ausrichten, außer, darauf zu drängen, die Patientin so schnell wie möglich in die Klinik zu bringen. Eine derartige Situation präklinisch zu lösen, ist so gut wie unmöglich.
Der rechte Seitenspiegel zersplitterte an der Klinikeinfahrt, in die der RTW gerade so hineinpasste. Mike fluchte, aber es half nichts. Raus aus dem RTW, die hinteren Türen auf, Trage raus. Ralf lief nebenher und presste die Infusionen aus. Wir wurden bereits erwartet. Zusammen lagerten wir Melanie um. Blut schwappte vom Tragetuch hinunter auf den hellblauen Boden. Dann verschwand das Team mit ihr hinter irgendeiner Tür und irgendwann hörten wir Antonias Geschrei. Im ersten Moment war ich erleichtert, aber dann wieder nicht mehr.
Ich hatte Melanies Gesicht vor Augen. Wir hatten uns intuitiv entschieden und sie unter höchster Eile in die Frauenklinik transportiert. Das Team dort führte einen Not-Kaiserschnitt durch. Antonia, das Neugeborene, befand sich zwar bereits im Bereich der Instabilität. Aber sie haben es irgendwie geschafft und sie retten können. Der Neugeborenen-NAW brachte Antonia dann in ein neonatologisches Zentrum.
Melanie hatte es nicht geschafft. Sie dekompensierte und verblutete unrettbar vor Ort, ohne je ihre Antonia gesehen oder in den Händen gehalten zu haben.
Aber weshalb hatten wir uns intuitiv für das Kind entschieden? Ethisch und biologisch betrachtet, haben wir vermutlich einiges übersehen, denn die lebende Mutter hat das Potenzial, in der Zukunft weitere Kinder zu gebären und großzuziehen. Das bedeutet, dass ihr Überleben potenziell mehr Nachkommen sichert als das eines einzelnen Kindes. Diese Entscheidung war also evolutionär gesehen falsch. Aber dem Kind musste in unseren Augen in diesem Moment besondere Aufmerksamkeit geschenkt und es auch in besonderem Maße geschützt werden. Hier treffen die Begriffe „klein“, „unschuldig“ und „schützenswert“ besonders zu. Exakt daran denkt man doch automatisch, wenn man so ein kleines Kind vor Augen hat – so wie wir, als das Blut aus Melanie herausfloss und wir neben ihr in der Wohnung standen. Das Kind hat ausschließlich durch Glück überlebt. Der Vater steht aber nun allein da.
Hätte jedoch Melanie es anstelle des Kindes geschafft, dann hätte das Paar vielleicht noch ein Kind bekommen können. Aber könnte, würde, sollte. Die Entscheidung fiel, weil Kinder in den Augen von uns Rettern immer am falschen Ende des Lebens sterben, während der Erwachsene bereits gelebt hat. Was ist also in so einer katastrophalen Situation richtig und was ist falsch? Hätte uns ein einziges Haus mit allen Fachabteilungen zur Verfügung gestanden, hätten möglicherweise beide überlebt. Und wie können wir wissen, wer die besseren Chancen hat?
Bis zu diesem Einsatz dachte ich, dass ich schon alles erlebt und gesehen hätte. Aber ich fürchte, dass es immer irgendwelche Szenarien geben wird, auf die ich mich niemals richtig vorbereiten kann. Bis heute hat sich ein derartiger Einsatz für mich auch nicht wiederholt. Ich hoffe, dass das so bleibt.
Bildquelle: Mathurin NAPOLY / matnapo, Unsplash