Nach massivem Druck von Patientenverbänden hat die FDA Relyvrio® bei amyotropher Lateralsklerose zugelassen. Jetzt ist eine Phase-III-Studie kläglich gescheitert. Was sollten alle Beteiligten daraus lernen?
Patienten mit amyotropher Lateralsklerose (ALS) leiden an fortschreitender Muskelschwäche und an Lähmungen. Sie verlieren die Fähigkeit zu sprechen, zu schlucken und letztlich auch zu atmen. Kausale Therapien für diese neurodegenerative Erkrankung gibt es bislang nicht. Medikamente wie Riluzol und Edaravon verlangsamen den Krankheitsprozess lediglich – der Bedarf an neuen Wirkstoffen ist also groß.
Forschende Hersteller und Neurologen klammern sich – vielleicht zu stark – an jeden Strohhalm. Genau das ist jetzt beim ALS-Medikament Relyvrio® (AMX0035) von Amylyx Pharmaceuticals mit Sitz in Cambridge, Massachusetts, passiert. Das Präparat enthält Natriumphenylbutyrat und Taurursodiol, zwei Wirkstoffe, die neuroprotektiv wirken sollen.
Im März 2022 hat ein unabhängiges Beratungsgremium der US Food and Drug Administration (FDA) mit knapper Mehrheit entschieden, die Wirksamkeit des Präparats sei noch nicht erwiesen: ein Votum, zu dem auch FDA-eigene Experten gekommen sind. Die Arzneimittelagentur erlaubte Amylyx jedoch, weitere Daten einzureichen. Sie entschloss sich zu dem ungewöhnlichen Schritt, den Beratungsausschuss im September 2022 erneut einzuberufen. Die Gutachter gaben wieder zu Protokoll, alle neuen Informationen würden nicht ausreichen, um die Zulassung zu befürworten.
Doch in den USA haben sich Interessengruppen wie die ALS Association vehement dafür eingesetzt, die FDA zu einem Umdenken zu bewegen. Auch eine Zulassung im Nachbarland Kanada erhöhte den Druck auf die Behörde. Sieben Mitglieder des FDA-Beratungsausschusses sprachen sich letztendlich dafür aus, grünes Licht zu geben – zwei waren dagegen. Kurz darauf erteilte die FDA ihre Zulassung bei einer gewissen „Restunsicherheit über den Nachweis der Wirksamkeit.“ Aber „angesichts der schwerwiegenden und lebensbedrohlichen Natur von ALS und des erheblichen ungedeckten Bedarfs ist dieses Maß an Unsicherheit akzeptabel.“
Die Behörde stützte ihre Zulassung auf Ergebnisse der multizentrischen, 24-wöchigen Phase-II-Studie, CENTAUR. ALS-Patienten erhielten Natriumphenylbutyrat/Taurursodiol (n = 89) oder Placebo (n = 48). Laut Analyse änderte sich der ALS Functional Rating Scale-Revised (ALSFRS-R) um -1,24 Punkte pro Monat unter Verum und um -1,66 Punkte unter Placebo. Der Unterschied war signifikant.
Seitdem haben etwa 4.000 Patienten in den USA Relyvrio® erhalten, bei einem Listenpreis von 158.000 US-Dollar pro Kopf und pro Jahr. Das Medikament verkaufte sich gut und übertraf sogar Erwartungen der Anleger. Ende 2023 meldete Amylyx einen Nettoumsatz von 381 Millionen US-Dollar, hauptsächlich aus US-Verkäufen von Relyvrio®. 2024 folgte das böse Erwachen.
Die FDA hatte Amylyx nämlich verpflichtet, Ergebnisse einer Phase-III-Studie vorzulegen – oder beim Misserfolg das Medikament vom Markt zu nehmen. Am 8. März 2024 veröffentlichte der Hersteller Resultate der Phase-III-Studie PHOENIX (NCT05021536) mit 664 Patienten.
Als primären Endpunkt hatten Forscher Veränderungen des ALSFRS-R nach 48 Wochen gegenüber dem Ausgangswert definiert. Zu den sekundären Endpunkten gehörten die Lebensqualität, die Gesamtüberlebenszeit und die Atemfunktion. PHOENIX erreichte weder den primären Endpunkt noch die sekundären Endpunkte: es gab keine statistisch signifikanten Unterschiede zwischen Verum und Placebo.
Kritische Stimmen ließen nicht lange auf sich warten. „Mit der Zulassung von AMX0035 hat die FDA vor dem starken Druck von Patienten und Interessenvertretern kapituliert, von denen viele Verbindungen zu Big Pharma haben, und hat sich nicht an die Wissenschaft gehalten“, sagt Dr. Robert Steinbrook. Er ist Direktor der Public Citizen's Health Research Group, einer Verbraucherschutzorganisation.
„Daraus können wir lernen“, erklärt Steinbrook. „Auf Patienten und Interessengruppen zu hören, ist wichtig, hat aber seine Grenzen, vor allem, wenn man die häufigen Verbindungen zwischen Interessengruppen und der Industrie bedenkt.“ Die FDA müsse Patienten vor Medikamenten schützen, falls es keine überzeugenden Belege für die klinische Wirksamkeit gebe. „Wenn der Hersteller das Medikament nicht umgehend vom Markt nimmt, sollte die FDA dies verlangen“, fordert Steinbrook.
„Dieses Medikament wirkt nicht, und tat es nie“, schreibt der US-Arzneimittelexperte Derek Lowe. Patienten hätten genauso gut Pfefferminzbonbons einnehmen können. „Wie bei den jüngsten Zulassungen für die Alzheimer-Krankheit waren Patientenvertreter (…) maßgeblich an dem Druck beteiligt, der die FDA dazu veranlasst hat, ihre ursprünglich richtige Entscheidung rückgängig zu machen.“
Mitte 2023 hat die FDA bereits in einer umstrittenen Entscheidung den monoklonalen Antikörper Aducanumab von Biogen zur Alzheimer-Therapie in einem beschleunigten Verfahren zugelassen. Dies geschah ebenfalls trotz der Negativ-Empfehlung eines externen Beratergremiums. Die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) äußerte Zweifel an der Wirksamkeit. Daraufhin entschied sich der Hersteller, seinen Zulassungsantrag zurückzuziehen.
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