US-Diplomaten berichteten 2016 erstmals von plötzlich auftretenden neurologischen Beschwerden. Steckte ein gezielter Angriff dahinter – oder war es doch ein psychologisches Phänomen? Zwei aktuelle Untersuchungen sollen jetzt Licht ins Dunkel bringen.
Ein plötzliches Druckgefühl im Kopf, dann starke Kopfschmerzen, Schwindelgefühle und Sehstörungen – so beschreiben Betroffene des mysteriösen Havanna-Syndroms einige ihrer Beschwerden. Der Name rührt daher, dass bei der erstmaligen Erwähnung im Jahr 2016 ausschließlich Diplomaten der US-Botschaft in Havanna, Kuba, und deren Angehörige von diesen beunruhigenden neurologischen Symptomen berichteten. Einige erwähnten laute Geräusche, die nur im Gebäude, in dem sie sich gerade befanden, nicht aber im Freien zu hören gewesen seien. Inzwischen wurde dieses rätselhafte Phänomen auch von anderen Orten der Welt gemeldet, darunter China und Europa – aber immer waren US-Diplomaten involviert.
Die Verbindung zum Geheimdienst-Milieu war schnell geschaffen; die ganze Sache sorgte sogar für Spannungen zwischen den USA und Kuba: Der damalige US-Präsident Donald Trump verdächtige kurzzeitig die kubanische Regierung, die Mitarbeiter mittels Schallwellen gezielt anzugreifen. Später war die Rede von Mikrowellen oder elektromagnetischer Energie. Offiziell hieß es jedoch stets, dass man nicht wisse, wer oder was hinter dem Phänomen steckt. Es folgten zahlreiche Untersuchungen zu den sogenannten „anomalen Gesundheitsvorfällen“ (anomalous health incidents, AHI).
In einem Dokument des State Department wurden Experten schon 2018 recht deutlich. Darin heißt es: „Keine plausible einzelne Energiequelle (weder Radio-/Mikrowellen noch Schall) kann sowohl die aufgezeichneten Audio-/Videosignale als auch die berichteten medizinischen Wirkungen erzeugen.“ Und: die lauten Geräusche, die die Mitarbeiter hörten, waren „höchstwahrscheinlich“ biologischer Natur – vermutlich von Grillen verursacht. Ein aufwändiger Bericht der Seuchenschutzbehörde CDC aus dem Jahr 2021, in den verschiedene Studien und Patientenfälle eingeflossen sind, kam zu keinem konkreten Ergebnis hinsichtlich der Ursache.
Bezüglich der Symptome heißt es in einem 2023 erschienenen US-Geheimdienstbericht, dass die Beschwerden nicht auf ausländische Angriffe zurückzuführen seien, sondern wahrscheinlich das Ergebnis von „Vorerkrankungen, konventionellen Krankheiten und Umweltfaktoren“ waren. Vermutlich trugen auch „soziale Faktoren“, die die Gruppenpsychologie betreffen, dazu bei: Dabei können sich Krankheitssymptome, die von einer Person in einer Gemeinschaft gemeldet werden, unter den Mitgliedern ausbreiten. Die Ergebnisse zweier Studien, die diese Woche zeitgleich in JAMA erschienen sind, scheinen die Theorien des US-Geheimdienstes zu stützen.
In der ersten Studie verglichen Mediziner um Leighton Chan vom National Institutes of Health (NIH) die klinischen Daten von insgesamt 86 Patienten mit AHI mit denen von Kontrollpersonen. Die Ärzte führten dabei umfangreiche klinische, auditive, vestibuläre, visuelle und neuropsychologische Tests durch. Zudem untersuchten sie ihr Blut auf bestimmte Biomarker, die Nervenschädigungen anzeigen, etwa Neurofilament light (NfL). Doch wie sich herausstellte, konnten die Mediziner in den meisten Tests keine signifikanten Unterschiede feststellen. Die Probanden mit AHI wiesen im Vergleich zu den Kontrollteilnehmern aber signifikant häufiger Gleichgewichtsprobleme sowie Symptome von Fatigue, posttraumatischer Belastungsstörung und Depression auf. 24 Teilnehmer (28 %) mit AHI wiesen zudem funktionelle neurologische Störungen auf. Funktionelle neurologische Störungen sind nicht auf Läsionen des Nervensystems zurückzuführen, sondern können unter anderem durch psychische Belastungen ausgelöst werden.
In der zweiten Studie untersuchte ein Team um Carlo Pierpaoli, ebenfalls vom NIH, insgesamt 81 Probanden mittels MRT und verglich die Bilder mit denen von Kontrollpersonen. Auch hier fanden die Forscher „keine signifikanten Unterschiede in den bildgebenden Messungen der Gehirnstruktur“ zwischen den beiden Gruppen. In dieser Studie waren jedoch ebenfalls Gleichgewichtsprobleme bei den Teilnehmern mit AHI am stärksten ausgeprägt. Diese Fälle von persistierendem postural-perzeptiven Schwindel deuten auf eine Störung der Hirnfunktion hin, die nach Ansicht der NIH-Forscher entweder mit äußeren Verletzungen oder psychischen Belastungen zusammenhängen könnte.
Das Team um Leighton Chan vermutet ebenfalls, dass die gefundenen funktionellen Störungen einige der Symptome erklären könnten. Das Team schreibt: „Die Personen in dieser Kohorte leben in einem Umfeld mit hohem Stress und kommunizieren häufig, was ein ideales Umfeld für die Ausbreitung von Funktionsstörungen zu sein scheint.“ Immerhin erfüllten 41 % der Teilnehmer der AHI-Kohorte die Kriterien für eine funktionelle neurologische Störung, so Chan et al.
Also doch kein ausländischer Angriff auf US-Diplomaten? „Wenn es sich tatsächlich um einen ‚Energie-Angriff‘ handelt, scheint dieser Symptome ohne anhaltende oder nachweisbare physiologische Veränderungen hervorzurufen“, schreibt das Team. Allerdings bedeute das Fehlen von Beweisen für eine Hirnverletzung nicht unbedingt, dass keine Verletzung vorliegt oder dass sie zum Zeitpunkt des Einsetzens der Symptome nicht aufgetreten ist.
Auf das Problem macht auch Mikrobiologe David Relman von der Stanford University in einem begleitenden Editorial aufmerksam: Eine zeitliche Diskrepanz zwischen den Vorfällen und den NIH-Bewertungen mache es schwierig, die Befunde zu interpretieren. Immerhin zeigten ältere Studien aus 2018 und 2019 tatsächlich Hirnläsionen bei AHI-Betroffenen. Er meint, dass diese Ergebnisse durchaus die Möglichkeit offenlassen, dass eine äußere Ursache wie gepulste Mikrowellen Verletzungen ausgelöst haben, die dann heilten und keine Anzeichen hinterließen, bevor klinische Tests oder Gehirnscans durchgeführt wurden. So steht es auch in einem 2020 offiziell veröffentlichten Bericht der National Academies of Sciences, Engineering, and Medicine (NASEM), an dem Relman beteiligt war. Auch wenn die Ursache bislang unklar sei, so fordert er dennoch „Überwachungssysteme, die darauf ausgelegt sind, frühe Fälle und besorgniserregende Häufungen schnell zu erkennen“.
Zwar scheint die Theorie eines massenpsychogenen Phänomens vor dem Hintergrund aktueller Untersuchungen plausibel – doch Experten wollen gezielte Angriffe ebenfalls nicht ausschließen. Was denkt ihr? Diskutiert mit in den Kommentaren!
Quellen:
Chan et al. Clinical, Biomarker, and Research Tests Among US Government Personnel and Their Family Members Involved in Anomalous Health Incidents. JAMA, 2024. doi: 10.1001/jama.2024.2413
Pierpaoli et al. Neuroimaging Findings in US Government Personnel and Their Family Members Involved in Anomalous Health Incidents. JAMA, 2024. doi: 10.1001/jama.2024.2424
Relman DA. Neurological Illness and National Security: Lessons to Be Learned. JAMA, 2024. doi: 10.1001/jama.2023.26818
Swanson et al. Neurological Manifestations Among US Government Personnel Reporting Directional Audible and Sensory Phenomena in Havana, Cuba. JAMA, 2018. doi: 10.1001/jama.2018.1742
Verma Ret al. Neuroimaging Findings in US Government Personnel With Possible Exposure to Directional Phenomena in Havana, Cuba. JAMA, 2019. doi: 10.1001/jama.2019.9269
Bildquelle: Jeffrey Grospe, Unsplash