„Die ist ganz grau“, meldet sich ein Angehöriger bei der 112 erschrocken – es ist nicht immer leicht, zu beurteilen, wann jede Hilfe für einen Patienten zu spät ist. Wie gefährlich hier vorschnelles Urteilen werden kann, habe ich selbst erlebt.
Oft wird man als Notarzt zu einem medizinischen Notfall gerufen, bei dem offensichtlich keine Hilfe mehr möglich ist. Manche Menschen sterben im Schlaf und werden am nächsten Morgen von ihren Angehörigen gefunden. Die rufen dann ganz erschrocken die 112 und sagen sowas wie: „Der atmet nicht mehr“ oder „Die ist ganz blau/grau“. Weil wir immer erstmal davon ausgehen, dass man ein Leben vielleicht noch retten kann, werden in der Regel ein Rettungswagen und ein Notarzteinsatzfahrzeug losgeschickt.
Grundsätzlich sind wir immer also im Lebensrettungsmodus, gedanklich bereiten wir uns auf eine Reanimation vor. Im Zweifel würden wir so auch immer erstmal mit einer Reanimation starten. Das hat einen einfachen Grund: Das Gehirn toleriert den fehlenden Blutfluss durch das stillstehende Herz nur wenige Minuten. Da ist einfach keine Zeit für Diskussionen. Deshalb würden wir immer erst starten und dann prüfen (teilweise während der laufenden Maßnahmen), ob die Reanimation im Sinne des Patienten ist. Abbrechen kann man immer. Andersherum geht es nicht. Wenn wir in Ruhe die Patientenverfügung durchblättern würden, um dann festzustellen, dass diese in dem besonderen Fall gar nicht zutrifft und wir reanimieren müssen, ist es zu spät. Denn bereits nach fünf Minuten ohne Kreislauf stirbt das Gehirn.
Ich sage es immer wieder – Medizin ist weit komplexer, als man sich das so als Laie vorstellt. Ungefähr so wie Klima. Nur weil wir alle in der Wetter-App nachschauen können, wie das Wetter wird, haben wir noch lange keine Ahnung vom Klima.
Ein Fallbeispiel aus der Praxis, was ich selbst erlebt habe und was zeigt, warum Medizin so komplex ist: Wir wurden zum Notfall einer hilflosen Person in einer Wohnung gerufen. Die Wohnung wurde durch die Feuerwehr geöffnet und das Team des RTW fand eine schwer luftnötige, nach Luft schnappende Patientin vor. Auf dem Nachttisch eine Pallibox. Das sind Schachteln mit Medikamenten und Notfallrufnummern vom Palliativnetzwerk. Weil sie eins und eins zusammenzählten, wurden wir bereits in der Tür mit den Worten „Wir wollten euch gerade abbestellen“ begrüßt. Es stellt sich aber heraus, dass die Pallibox von ihrem verstorbenen Sohn war und sie diese als Erinnerung aufbewahrt hatte. Die Patientin konnte nach ein paar Maßnahmen vor Ort rasch stabilisiert und im Anschluss in eine Klinik gefahren werden.
In der Akutsituation würden wir also immer alles machen. Das heißt in der Regel Herzdruckmassage, Beatmung, Defibrillation – das volle Programm. Trotz aller Bemühungen kann es aber sein, dass der Patient vor Ort stirbt. Das ist dann gleichzeitig der offizielle Zeitpunkt der Todesfeststellung. „Abbruch alle Maßnahmen und Todesfeststellung 11:34 Uhr.“ Manchmal stellt man aber auch bereits im Erstkontakt mit dem Patienten fest, dass dieser seit längerem verstorben ist. Das können sichere Todeszeichen wie Leichenflecken, Fäulnis oder Tierfraß sein, dann würden wir natürlich nicht mehr reanimieren. Auch in diesem Fall würden wir eine Todesfeststellung machen. Reminder: Der Zeitpunkt der Todesfeststellung ist nicht zwingend identisch mit dem Todeszeitpunkt – den genauen Zeitpunkt des Todes können wir oft gar nicht bestimmen. Sind sichere Todeszeichen zu erkennen, kann der Tod bereits Stunden oder Tage vorher eingetreten sein.
Was passiert als Nächstes? Im Wesentlichen muss man zwei Situationen unterscheiden: Ist die Person eines natürlichen Todes gestorben oder gibt es den Verdacht, dass jemand nachgeholfen hat? In diesem Beitrag möchte ich das Vorgehen für den Fall beschreiben, wenn wir als Mediziner den Verdacht haben, dass da jemand seine Finger im Spiel hatte. Dann wird aus der Szene noch im Moment der Todesfeststellung ein Tatort.
Solange wir ein Menschenleben retten können, sind alle Maßnahmen erlaubt und wir als Notfallmediziner haben die uneingeschränkte Priorität. Sobald wir aber den Tod feststellen und die Lebensrettung unmöglich ist, rücken wir in den Hintergrund und die Spurensicherung steht an erster Stelle. Falls nicht ohnehin vor Ort, würden wir die Polizei verständigen. Der Leichnam darf ab dem Moment nicht mehr manipuliert werden. Jeder Tubus, jede Venenkanüle, die EKG-Elektroden, jede Drainage – alles verbleibt unverändert am und im Körper. In der Regel kommt dann die nächstverfügbare Streife und sichert den Tatort ab.
Das genaue Prozedere ist von Bundesland zu Bundesland etwas unterschiedlich. In NRW reicht es, wenn der Notarzt auf einem Dokument wie zum Beispiel dem Rettungsdienstprotokoll den Tod bescheinigt.
Grundsätzlich sind wir ab diesem Moment auch wieder frei und einsatzbereit. Es ist von enormer Wichtigkeit, dies der Leitstelle zu melden. Falls man für die Wiederbelebungsmaßnahmen jeden Rucksack geöffnet und sehr viel Material verbraucht hat, kann es natürlich sein, dass wir auffüllen müssen. Auch das muss aber so schnell wie möglich geschehen, denn, so blöd es klingt – Toten kann man nicht mehr helfen.
Man stelle sich vor, ein Notarzteinsatzfahrzeug ist abgemeldet, weil der Notarzt noch in Ruhe die Leichenschau machen will und 500 Meter weiter verunfallt jemand schwer und stirbt vielleicht, weil das nächste Notarzteinsatzfahrzeug über 20 Minuten Anfahrtszeit hat. Das geht natürlich nicht. Deshalb melden wir uns direkt nach der Todesfeststellung bei der Leitstelle einsatzbereit oder bedingt einsatzbereit zum Auffüllen auf der Wache.
Die Kriminalpolizei übernimmt den Tatort und aktiviert, falls nötig, auch die Spurensicherung. Bei einem Gewaltverbrechen wird die Staatsanwaltschaft den Leichnam beschlagnahmen und einem Institut für Rechtsmedizin zuführen. Manchmal kommen die Rechtsmediziner sogar an den Tatort und nehmen noch vor Ort Untersuchungen vor. Wen das genauer interessiert, der sei an den Kollegen Tsokos in Berlin verwiesen, der ist da sehr umtriebig und bietet auch für Laien einen gut verständlichen und vor allem realistischen Einblick in den Arbeitsalltag der Rechtsmedizin.
Bei einer vermuteten Straftat kann die Staatsanwaltschaft eine Obduktion anordnen. Diese Obduktion dient einzig und allein dem Zweck, herauszufinden, ob jemand für den Tod dieser Person verantwortlich ist. Nach der Spurensicherung und der Obduktion wird der Leichnam freigegeben und kann von den Angehörigen bestattet werden. Dafür wird das Bestattungsunternehmen der Wahl informiert und die leiten einen dann durch den ganzen Prozess. Meist genügt es, zunächst das Bestattungsinstitut zu informieren und mitzuteilen, wo sich der Leichnam befindet. Die Staatsanwaltschaft interessiert sich immer nur für die Frage, ob jemand beim Tod nachgeholfen hat oder nicht.
Warum das wichtig ist, werde ich im nächsten Beitrag erklären. Dann werde ich auch etwas dazu schreiben, was passiert, wenn man den Rettungsdienst ruft und zum Beispiel in Folge eines Herzinfarkts oder aus anderen natürlichen Ursachen stirbt.
Bildquelle: Mathurin NAPOLY / matnapo, Unsplash