Die Praxis ist voll, die Zeit knapp – und trotzdem sollen wir bei jeder banalen Kinderkrankheit zwischendurch Atteste ausstellen. Dieser Irrsinn muss ein Ende haben. Und das ist nicht das Einzige, worüber wir gerade streiten.
Zwei aktuelle Nachrichten aus der Gesundheitspolitik betreffen unmittelbar unseren Fachbereich als Pädiater. Zum einen schlägt der neue Vorsitzende der Ständigen Impfkommission Prof. Klaus Überla (Virologe aus Erlangen) vor, man solle die HPV-Impfung für Jugendliche doch in den Schulen umsetzen, damit die Impfquoten gesteigert werden. Zum anderen plädiert der (ebenfalls neue) Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte Michael Hubmann für die Abschaffung der Kinderkrankschreibungen bei einfachen Erkrankungen, um die Praxen zu entlasten. Was ist davon zu halten?
Zuerst die Fakten: Die Impfung gegen HPV kann in über 94 % eine zukünftige Infektion mit dem Humanen-Papilloma-Virus verhindern und damit eine mögliche Ursache für Krebsformen des Genitalbereiches und im Mund-Rachen-Raum. Die Impfung wird für Kinder jeglichen Geschlechtes ab dem neunten Geburtstag empfohlen. Aktuell erreichen wir bei den Impfquoten für HPV allerdings nur knapp 54 % bei den Mädchen und enttäuschende 27 % bei den Jungen. Auch in der Praxis merken wir, dass diese Impfung in den Familien noch wenig bekannt ist. Insbesondere bei den Jungen sehen wir, dass die Impfung kaum umgesetzt wird, obwohl wir bei allen Vorsorgeuntersuchungen ab dem Schulalter darauf hinweisen. Noch immer gilt die Impfung in der Öffentlichkeit als „Gebärmutterhalskrebs-Impfung“, die „ja jetzt noch gar nicht erfolgen muss, solange die Jugendlichen nicht sexuell aktiv“ seien.
Eine Impfung im schulischen Rahmen würde sehr sicher die Impfquoten steigern: Die Jugendliche werden viel besser erreicht, die Aufklärung kann intensiver, z. B. im Rahmen des Biologie-Unterrichtes, erfolgen. Nicht zuletzt tut der Einfluss der peergroup ihr Übriges. Bereits heute lassen sich viele Jugendliche vor allem impfen, weil sie das von ihren Freunden gehört haben. Ja, die Impfung wird manchmal sogar als Initiationsritus zum Erwachsenensein gefeiert.
Die Umsetzung wird aber schwieriger: Bereits jetzt ist das öffentliche Gesundheitswesen völlig überlastet, sodass Impfaktionen in ganzen Schulen kaum umsetzbar sein dürften. Bleiben nur die niedergelassenen Ärzte, die dann auf Honorarbasis in den Schulen im Auftrag des Gesundheitsamtes aushelfen könnten. Aufwendig bleibt es trotzdem: In alten Zeiten wurden die Poliotropfen auf einem Stück Zucker gegeben, niemand fragte nach dem Einverständnis der Eltern, heute sind Aufklärung, Vorbereitung und Nachbeobachtung der Jugendlichen zu Recht aufwendiger, als die Impfung an sich. Im aufgeklärt-kritischen Deutschland zweifle ich am ehesten an der Umsetzung auf Seiten der Elternschaft als an der Bereitschaft der Mediziner.
Mehr Rückenwind bekäme sicher der Vorschlag, Kinderkrankschreibungen für Eltern bei einfachen Erkrankungen der Kinder zu erlassen. Aktuell müssen arbeitende Mütter und Väter bereits ab dem ersten Tag einen „blauen Schein“ (Muster 21) vorlegen, durch den der „Bezug von Krankengeld bei Erkrankung eines Kindes“ attestiert wird. Berufstätige Mütter und Väter haben pro Kalenderjahr Anspruch auf jeweils 15 Arbeitstage, die sie für die Pflege eines Kindes (unter 12 Jahren) von der Arbeit freigestellt werden, Alleinerziehende erhalten 30 Arbeitstage. Bei mehreren Kindern erhöhen sich die möglichen Freistellungstage pro Elternteil auf maximal 35 Tage im Kalenderjahr, bei Alleinerziehenden auf maximal 70 Arbeitstage.
Viele Kinder sind krank genug, nicht in die Betreuungseinrichtungen zu können, aber aus Sicht der Eltern nicht so krank, dass sie dringend einen Kinderarzt sehen müssen. Seit der Coronazeit dürfen wir den „Kinderkrankschein“ bei leichten Erkrankungen und bekannten Patienten auch nach telefonischem Kontakt herausgeben. Diese Befugnis wurde auch für 2024/2025 erneuert. Grundsätzlich können Eltern eigentlich sehr gut selbst beurteilen, ob sie ihr Kind zuhause lassen oder nicht. Bei banalen Erkrankungen werden die Kinder- und Jugendarztpraxen unnötig mit Besuchen belastet, nur um der Bürokratie Genüge zu tun. Wir Kinder- und Jugendärzte verkommen so zur Kontrollinstanz für die Arbeitgeber, ob die Kinder wirklich krank sind. So sagt der BVKJ-Präsident Hubmann: „Vor allem aber können wir schlichtweg nicht beurteilen, ob zur Betreuung eines Kindes ein Elternteil zu Hause bleiben muss. Absurderweise wird aber genau das von uns gesetzlich verlangt.“
Noch ärgerlicher sind Schulatteste, um zu attestieren, dass ein Schüler wirklich krank ist und nicht womöglich die Schule schwänzt. Das lässt sich schlussendlich in der Praxis nicht beurteilen: Berichtet ein Schüler, er habe sich morgens erbrochen oder Kopfschmerzen oder Fieber gehabt, müssen wir das glauben, auch wenn in der Praxis alles gut aussieht. Die Schule besteht auf das Attest. „Einfach so“ dürfen wir diese nicht abgeben, also müssen die Patienten einbestellt und untersucht werden. Eine Verschwendung der ohnehin knappen Praxisressourcen. Und wieder verkommen wir zu Erfüllungsgehilfen der Schulen, die immer absurdere Regeln aufstellen.
So werden Atteste verlangt vor oder nach dem direkten Anschluss an Ferien, bei Klassenarbeiten bereits in der Mittelstufe oder in den Grundschulen und verdächtig oft bei Familien, die der deutschen Sprache nicht so mächtig sind. Oder Kinder werden nach Hause geschickt, weil sie eventuell krank sind und dies in der Kinderarztpraxis geprüft werden soll. Die Eltern benötigen eine „Gesundschreibung“. Nochmal der BVKJ-Präsident: „Ein Kind hat einen Mückenstich. Die Kita sagt: Das Kind hat einen Hautausschlag.“ Also verlässt der Papa seine Arbeit, „holt seinen Sohn ab und kommt zu mir in die Praxis“. Ein solches Szenario sei „kein Witz, das ist Alltag und ein gesellschaftlicher Schaden“.
Letztendlich wird so künstliche Bürokratie veranlasst auf Kosten der Solidargemeinschaft. Das Potenzial des Missbrauchs ist doch eher gering. Wegen wenigen „schwarzen Schafen“, die einen entspannteren Umgang mit Attesten ausnutzen werden, werden alle Eltern in Tatverdacht genommen. Eltern dürfen bereits jetzt ihre Schulkinder bis zu zehn zusammenhängenden Tagen krankmelden, ohne ein ärztliches Attest vorlegen zu müssen. So regeln das viele Bundesländer vertrauensvoll in den Schulbesuchsordnungen. Halten wir uns daran zur Entlastung der Eltern und der Arztpraxen.
Bildquelle: Steve Johnson, Unsplash