Wer im Rettungsdienst „natürliche Todesart“ auf dem Totenschein ankreuzt, macht sich schnell angreifbar – und verhindert vielleicht sogar, dass ein Mord aufgeklärt wird. Hier meine Dos and Don’ts.
In meinem letzten Artikel schrieb ich darüber, was passiert, wenn wir als Rettungsdienst eine nicht natürliche Todesart vermuten. Tod in Folge eines Messerstichs, Schussverletzung, auch Suizide gehören dazu. Genau wie bei der unnatürlichen Todesart gilt hier: Mit dem Zeitpunkt der Todesfeststellung endet die Zuständigkeit der Krankenversicherung, die alle medizinischen Maßnahmen bezahlt. Und damit endet auch unsere Zuständigkeit, zumindest als Rettungsdienst. Als Arzt kann ich zwar noch eine Leichenschau vornehmen, aber wenn ich das tue, mache ich das privatärztlich. Aber eins nach dem anderen.
Wenn wir den Tod feststellen, fahren wir nicht einfach wieder weg. Es folgen ein paar Schritte, die für Angehörige oft verwirrend sind. Regelhaft wird von uns beispielsweise die Polizei gerufen. Da bekommen viele erstmal einen Schreck. Und da würde ich gerne erklären, warum wir das tun: Oft wissen wir einfach nicht, ob die Todesart natürlich ist. Wir rasen mit Blaulicht zum Einsatzort, treffen das erste Mal einen für uns komplett fremden Menschen, der sich nicht mehr selbst äußern kann. Dann stellen wir den Tod dieses Menschen fest und müssen uns festlegen, wie er gestorben ist.Für uns stellt sich nie die Frage nach der Schuld.Da steckt ein Messer in der Brust? Dann ist die Sache relativ klar, das wird ein unnatürlicher Tod sein. Das Prozedere ist bekannt.Suizid? Auch unnatürlich.
Aber nur, weil jemand friedlich schlafend im Bett gestorben ist, heißt das noch lange nicht, dass es ein natürlicher Tod ist. Ersticken, vergiften – es gibt unzählige Möglichkeiten, einen Menschen unspektakulär zu töten. Der perfekte Mord ist der, der nicht auffällt.Kreuze ich als Notarzt auf dem Totenschein „Todesart: natürlich“ an, wird eine Strafverfolgung so gut wie unmöglich. Das ist eine enorme Verantwortung, denn es ist gar nicht so einfach, zu erkennen, dass jemand nicht aus innerer Ursache, sondern durch Einwirken von außen gestorben ist.Die Gelbverfärbung der Haut kann Ausdruck eines Leberversagens sein und auf natürlichem Weg zustande gekommen sein (zum Beispiel durch langjährigen Alkoholmissbrauch) - oder aber auch durch eine schleichende Vergiftung.
Ein Beispiel: Ein Mensch kommt wegen Durchfall ins Krankenhaus, verliert viel Flüssigkeit, entwickelt ein Nierenversagen, bekommt eine Thrombose und stirbt an einer Lungenarterienembolie.Kein Messer, keine Schussverletzung, kein Suizid.Natürlicher Tod, sagt ihr? Das kann man so nicht ohne weiteres sagen.Im Fall eines Todes müssen wir Ärzt:innen versuchen zu klären, was am Anfang der Kausalkette stand. Denn ohne Durchfall kein Flüssigkeitsverlust, ohne Flüssigkeitsverlust kein Nierenversagen, ohne Nierenversagen keine Thrombose, ohne Thrombose keine Lungenembolie und ohne Lungenembolie würde dieser Mensch jetzt noch leben.Was hat also zum Durchfall geführt? War vielleicht das Essen durch unsachgemäße Zubereitung kontaminiert? Gibt es beispielsweise in einem Seniorenheim weitere Bewohner:innen, die auch nach einer Mahlzeit Durchfall hatten?
Was hat zum Tod geführt?Und hier gilt - gibt es einen begründeten (!) Verdacht, dann ist die Polizei einzuschalten. Und das ist regelhaft der Fall.Die Polizei wird dann ihrerseits Ermittlungen anstellen, die Leiche besichtigen, Spuren sichern und alles der Staatsanwaltschaft vortragen, die dann entscheiden kann, zu ermitteln.
Die Kernfrage für die Staatsanwaltschaft ist: Hat jemand anderes Schuld am Tod des Menschen? Und das ist für uns kaum oder nur schwer zu eruieren, weshalb wir in solchen Fällen meist "unklare Todesart" ankreuzen und regelhaft die Kripo verständigen müssen
Auch wenn ich gerne Krimis schaue, macht mich das noch nicht zum Detektiv oder Strafverfolger. Wir sind einfach nicht dafür ausgebildet, verdächtige Unregelmäßigkeiten in den Schilderungen von Angehörigen zu entdecken. Doch weil sich der tote Mensch nicht mehr wehren kann, müssen wir alles dafür tun, eine etwaige Straftat aufzudecken.
Wir rufen die Polizei also nicht, weil wir vermuten, dass jemand den Patienten ermordet hat, sondern weil für uns die Todesart unklar ist und wir die Aufklärung den Profis überlassen. Wir Notärzte sind nicht die Hausärzte, wir wissen wenig bis nichts über die Vorgeschichte der Patienten, die wir im Rettungsdienst antreffen. Die Frage natürlicher oder unnatürlicher Tod hat erhebliche Konsequenzen, nicht nur für die Strafverfolgung, sondern zum Beispiel auch für Lebensversicherungen. Die Kriminalpolizei ist die letzte Verteidigungslinie gegen Unrecht. Wer also vorschnell den Totenschein als „natürlich“ ausfüllt, bringt den Patienten vielleicht um sein Recht, dass sich jemand die Todesumstände genauer anschaut – viel genauer, als wir es im Rettungsdienst könnten.
Deshalb bereite ich die Angehörigen, Nachbarn oder wer auch immer gerade dabei ist, so behutsam wie möglich auf das vor, was als nächstes kommt. Die Kriminalpolizei wird Fotos von der Umgebung machen und Anwesende befragen.Stand die Tür offen oder war sie geschlossen? Wann wurde die Person zuletzt lebend gesehen? Die suchen dann auch nach Hinweisen wie einer Fernsehzeitung (welcher Tag war zuletzt aufgeschlagen), Tablettenblistern oder einem Abschiedsbrief. Danach wird der Leichnam vollständig entkleidet, von vorne und hinten untersucht, fotografiert und in alle Körperöffnungen geschaut. Nachdem das abgeschlossen ist, wird der Leichnam in der Regel erstmal beschlagnahmt und die Erkenntnisse der Staatsanwaltschaft vorgelegt. Wenn sich aus den Beweismitteln der Kriminalpolizei kein Verdacht auf ein Fremdverschulden ergibt, wird die Leiche meist freigegeben.Ein Tod kann also nicht natürlich sein und trotzdem hat niemand Schuld daran. Das festzustellen ist aber Aufgabe der Staatsanwaltschaft und nicht unsere ärztliche Aufgabe.
„Die Nachbarn gucken schon!“
Ich würde sagen, in etwa 99 % der mir bekannten Fälle wurde die Leiche innerhalb von 48 Stunden von der Staatsanwaltschaft freigegeben. Dazu muss man wissen: Die Staatsanwaltschaft interessiert nicht primär die Todesursache, also ob jemand an einem Herzinfarkt, einer Lungenembolie oder einer Überdosis gestorben ist. Die Staatsanwaltschaft will nur wissen, ob jemand nachgeholfen hat. Ob es wahrscheinlich ist, dass jemand anderes Schuld am Tod der/des Verstorbenen ist.Auch eine eventuell angeordnete Obduktion dient nur der Klärung der Frage, ob es ein Fremdverschulden gibt oder nicht. Aufwändige und teure Toxikologietests, wie sie in Fernsehserien regelhaft durchgeführt werden, kommen in den seltensten Fällen zur Anwendung.
Nach der Freigabe des Leichnams können die Angehörigen ein Bestattungsunternehmen benennen, das den Leichnam abholen und alles Weitere in die Wege leiten kann. Die meisten im Rettungsdienst verstorbenen Menschen sind sehr alte und multimorbide Patienten. Wenn ich da als Notarzt eine natürliche Todesart vermute, versuche ich, eine Lösung über den Hausarzt zu erreichen. Wenn man die direkt anruft, kommen die meistens raus und machen die Leichenschau selbst.Die Angehörigen sind dafür meist sehr dankbar, wenn man ihnen den großen Auflauf mit der Polizei erstpart - was natürlich niemals die primäre Motivation sein kann! Im Zweifel kommt immer die Polizei, das sind wir den Toten schuldig.
Jetzt fragt ihr euch vielleicht, warum ich das nicht selbst mache. Auch das möchte ich gerne erläutern. Zum einen bin ich, wie gesagt, nicht der behandelnde Arzt des Patienten. Damit fehlen mir ganz viele, oft relevante, medizinische Vorinformationen.Auch ist der Standort unseres Notarzteinsatzfahrzeugs so festgelegt, dass sich statistisch eine ideale Wegstrecke bis zum nächsten Notfall ergibt. Es ist also aus einsatztaktischer Sicht sinnvoll, möglichst rasch wieder am Standort zu sein und nicht stundenlang irgendwo anders zu verweilen.
Der alles entscheidende Punkt ist aber, dass eine Leichenschau viel Zeit in Anspruch nimmt. Eine Asystolie im EKG gilt nicht als sicheres Todeszeichen. Man muss also mindestens warten, bis solche sicheren Todeszeichen sichtbar sind. Das sind zum Beispiel Leichenflecken, die sich regelhaft frühestens 30 Minuten nach Herzstillstand bilden. Die Leichenschau selber dauert, ordentlich durchgeführt, etwa 30–45 Minuten. Der Leichnam muss unter anderem komplett entkleidet werden, es muss in alle Körperöffnungen geschaut werden. Der Leichnam muss genauestens inspiziert werden, ob irgendwo Einstichstellen, beispielsweise auch von Injektionen, sichtbar sind.
Beispiel:Ein Patient stirbt in Folge einer Sepsis. Auf Nachfrage kommt heraus, dass er zwei Wochen vorher beim Hausarzt eine Schmerzspritze in den Rücken bekommen hat. Diese hat sich in der Tiefe entzündet, die Sepsis ausgelöst und an dieser ist der Mensch letztlich verstorben. Ohne Spritze kein Tod – also unnatürlich. Man müsste dann klären, ob der Patient über diese Komplikation aufgeklärt wurde und ob sie vermeidbar gewesen wäre.
Tatsächlich gibt es deshalb einige Rettungsdienstträger, die ihren Notärzten ganz klar empfehlen, keine Totenscheine auszufüllen. Wer es trotzdem macht, sollte zwei Dinge beachten. Erstens, sich sofort mit Todesfeststellung frei und abkömmlich zu melden und das am besten irgendwo auf dem Protokoll zu dokumentieren. Zweitens, die Leichenschau gewissenhaft und sorgfältig durchzuführen.
Es gibt nicht wenige, die Eurozeichen in den Augen haben, wenn sie eine Leiche sehen. Da wird dann schnell drübergeschaut und dem Ausfüllen der privatärztlichen Rechnung mehr Aufmerksamkeit gewidmet als dem Ausfüllen des Totenscheins. Schwarze Schafe sind sicher in der Minderheit, aber es gibt sie. Für eine Leichenschau am Wochenende oder nachts können mit Zuschlägen über 200 Euro berechnet werden. Besonders findige Kollegoiden versuchen noch das Gespräch mit den Angehörigen oder sogar das „Verweilen beim Toten“ (GOÄ Nr. 56) zu berechnen – alles Leistungsbestandteile, die bereits in der Leichenschau enthalten sind und deshalb nicht zusätzlich berechnet werden dürfen. Manche berechnen noch die Auskultation, ein EKG oder sogar eine Sonografie – bei einer Leiche!
Das ist natürlich Nonsens und dient nur dazu, die Rechnung künstlich aufzublähen. Theoretisch alles anfechtbar, aber welcher Angehörige weiß das schon? Auch um hier nicht in Verruf zu geraten, lasse ich sowas. Ich stelle den Todeszeitpunkt fest und leite alle weiteren Maßnahmen ein. Ich erkläre das den Angehörigen, spreche mit dem Hausarzt und melde uns dann wieder frei und einsatzbereit. Oft geht es kurze Zeit später weiter zum nächsten Notfall.
Anmerkung in eigener Sache:In einem vorigen Artikel in der Version vom 11.4.2024 gab es Ungenauigkeiten zu Todesursache und Todesart.Zunächst einmal bitte ich um Entschuldigung, dass ich die Begriffe Todesart und Todesursache nicht klar getrennt und sogar verwechselt habe. Dank der zahlreichen Hinweise wurde der Fehler umgehend korrigiert und eine Verwechselung der Begriffe von meiner Seite wird nicht wieder vorkommen. Vor allem möchte ich mich aber für die vielen sehr konstruktiven und sogar sehr freundlichen Beiträge, insbesondere der Kolleg:innen aus der Rechtsmedizin bedanken! Fehler passieren, bleiben aber nicht unkorrigiert stehen und das ist gut so! Vielen Dank dafür! Ich habe auch den Passus über die Frage der Todesart nach Sturz geändert und hoffe, dass damit der Punkt klarer wird, dass wir Mediziner:innen in Unkenntnis des Anfangs der Kausalkette regelhaft NICHT zwischen einem natürlichen oder nicht-natürlichen Tod unterscheiden können und deshalb im Zweifel immer „unklare Todesart“ angekreuzt und zwingend die Kripo eingeschaltet werden sollte.Viele Grüße!Narkosedoc
Bildquelle: Lacie Slezak, Unsplash