KOMMENTAR | Zwei Gesundheitsminister liefern sich ein Fernduell um die Lehre von den leeren Zuckerkügelchen. Doch am eigentlichen Problem geht der Streit vorbei.
Es wird wohl vorerst nichts daraus, dass Krankenkassen nicht für Homöopathie bezahlen dürfen. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach hatte das Verbot angekündigt, doch laut Tagesschau vom 5. April sei das entsprechende Verbot im aktuellen Entwurf des Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetzes „quasi wegradiert“. Das Einsparpotenzial von geschätzten 20 bis 50 Millionen Euro war wohl doch zu klein und der Gegenwind offenbar doch zu groß, als dass Lauterbach weiter auf dem Verbot beharren wollte.
Einer, von dem beständig Gegenwind kommt, ist Lauterbachs schwäbischer Counterpart, der für Gesundheit zuständige grüne Sozialminister von Baden-Württemberg und überzeugte Homöopathiefreund Manfred Lucha. Der sträubt sich auch seit Monaten dagegen, das Votum seiner Landesärztekammer anzuerkennen, die Zusatzbezeichnung Homöopathie aus der Weiterbildungsordnung zu streichen. Dass 14 von 17 Landesärztekammern sowie die Bundesärztekammer diesen Schritt bereits vollzogen haben, ficht Lucha nicht an. Bei einer öffentlichen Anhörung vor wenigen Tagen in der Landesärztekammer kam das Thema erneut auf den Tisch.
Noch im Januar hatte Karl Lauterbach auf X, ehemals Twitter, gepostet:
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Dass er jetzt einen Rückzieher macht, ist nicht nur eine Niederlage für ihn, sondern auch für unser Gesundheitssystem. Von einer höheren Warte aus betrachtet, auch für den Stellenwert der Vernunft hierzulande, auf die wir uns doch einiges zugutehalten.
Lauterbachs drei Sätze sind klar und richtig:
Seit Samuel Hahnemann vor mehr als 200 Jahren die Homöopathie erfunden hat, verweisen Kritiker die Lehre ins Reich der Schwurbeleien. Warum sich die Homöopathie trotzdem so beharrlich hält, liegt auch an den Vertretern der evidenzbasierten Medizin, die in fataler Selbstüberschätzung klinische Studien forderten, weil sie davon ausgingen, dass die Homöopathie damit ein für alle Mal widerlegt werden würde. Weit gefehlt.
Dagegen hat Lauterbach in seinem dritten Satz oben, ob bewusst oder unbewusst, die Worte weise gewählt: Er hat von „wissenschaftlicher“ und nicht von „medizinischer“ Evidenz gesprochen. Das ist ein fundamentaler Unterschied. Denn „wissenschaftliche Evidenz“ schließt die Erkenntnisse aller Wissenschaften ein, also auch die von Physik, Chemie, Physiologie und Pharmakologie. Für die ist Homöopathie ohne Zweifel Esoterik.
Mit „medizinischer Evidenz“ ist dagegen üblicherweise die Evidenz aus klinischen Studien gemeint. Und die schließt die Erkenntnisse aus anderen Wissenschaften explizit aus. Alle Fragen nach der Plausibilität der zu testenden Verfahren, selbst ihre Vereinbarkeit mit Naturgesetzen, werden als irrelevant angesehen. Ein Verum ohne Wirkstoff? So what. – Simileprinzip? Wirkmechanismen spielen keine Rolle. – Absurde Ursubstanzen wie Küchenzwiebel? Man kann ja nie wissen.
Es zählt nur die Qualität des klinischen Settings. Der Goldstandard ist die randomisierte klinische Studie, oder RCT. Noch besser sind Reviews mehrerer RCTs. Zeigt sich in so einem Review in der Interventionsgruppe ein signifikanter Unterschied zur Kontrollgruppe, gilt die Wirkung als belegt. Zeigt sich kein Unterschied, gilt die Wirkung als nicht belegt.
Dieses Pochen auf klinische Studien hat eine methodische und eine psychologische Schwachstelle. Die methodische: Klinische Studien sind per se fehleranfällig, sie können unsauber designt und ausgeführt sein und sie führen zufällig zu falsch positiven Resultaten. Selbst wenn man weitere Verzerrungen durch Publication Bias, Voreingenommenheit und andere menschliche Schwächen außer Acht lässt, werden manche RCTs und Reviews zwangsläufig Hinweise auf eine Wirkung von Homöopathika finden.
Die psychologische Schwachstelle: Weil die Studien eine Wirkung überprüfen wollen, können sie immer nur einen Beleg für eine Wirkung oder keinen Beleg für eine Wirkung finden, aber niemals einen Beleg für eine Nicht-Wirkung. Selbst Studien, in der Verum- und Kontrollgruppe gleich abschneiden, lassen den Schluss offen, ob nicht weitere Studien doch einen Unterschied finden würden. Keine noch so gut gemachte Studie hat demnach die Power, einen Schlussstrich unter die Debatte um die Wirksamkeit von Homöopathika zu ziehen. Im Gegenteil: Die positiven Studienergebnisse werden von Einrichtungen wie der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Homöopathie, kurz WissHom, genüsslich zu eigenen, positiven Reviews verwurstet. Man findet mittlerweile kaum ein Statement pro Homöopathie, das sich nicht auf die „Belege“ aus wissenschaftlichen Studien beruft.
Ein typischer Fall: Vor kurzem zitierte die Gießener Allgemeine Zeitung die Sprecherin des ortsansässigen St. Josefs Krankenhauses, dass in ihrer Klinik „ausschließlich nach klassischer Schulmedizin“ behandelt werde – wobei schon auch homöopathische Präparate zum Einsatz kämen, etwa Arnica-Präparate in der Gynäkologie. Deren Wirkung sei aber „wissenschaftlich überprüft und bewiesen“. Als Beleg nannte die Sprecherin ein Review von 23 Einzelstudien zur postoperativen Arnica-Gabe, erschienen 2021 in der Fachzeitschrift Frontiers in Surgery.
Das Ergebnis des Reviews: Homöopathische Arnica-Präparate sind beim Verhindern großer Hämatome und anderen postoperativen Unbillen besser als Placebo und gleich gut wie Entzündungshemmer. Klingt an sich recht beeindruckend. Nur: Den größten Effekt erzielte eine Untersuchung mit Arnica C30 – eine 1:1060-Verdünnung einer Arnica-Ursubstanz. Da wurde also Placebo mit Placebo verglichen. Nach EbM-Methodik ist das egal, es zählt nur das Ergebnis. Laut sicherem Wissen aus anderen Disziplinen jedoch kann das positive Ergebnis unmöglich auf das „Arnica“-Präparat zurückgehen, sondern muss ein falsch-positiver Befund sein.
Doch solche potemkinschen Paper machen mit ihrem scheinseriösen Habitus samt Forest-Plot-Grafiken Eindruck, etwa bei der Belegschaft des Gießener Krankenhauses. Da können kritische Einrichtungen wie das Informationsnetzwerk Homöopathie die Studien und Reviews noch so akribisch sezieren, in der Öffentlichkeit bleibt bestenfalls der Eindruck hängen: Die einen sagen so, die anderen so. So stärkt die EbM-Methodik nicht nur das Ansehen der Homöopathie, sondern untergräbt auch das Vertrauen in die Wissenschaft.
Der einzige Ausweg aus dem Dilemma besteht darin, dass die evidenzbasierte Medizin sich ihrem blinden Fleck gegenüber esoterischen Verfahren stellt, indem sie die A-priori-Plausibilität der zu prüfenden Verfahren in ihre Methodik einbezieht. Widerspricht ein zu prüfendes Verfahren gesichertem Wissen, ist die A-priori-Plausibilität gleich Null. Eine Überprüfung in klinischen Studien ist dann irrelevant und bei falsch positiven Resultaten kontraproduktiv. Nur wenn ein Verfahren mit einem plausiblen Wirkmechanismus in präklinischen Studien gezeigt hat, dass es tatsächlich wirken könnte, dann ist eine Überprüfung in klinischen Studien sinnvoll und notwendig.
Neu ist das alles nicht: Neben etlichen Publikationen, die es zu dem Thema gibt (z. B. hier und hier), setzt sich die Bewegung Science-Based Medicine schon seit vielen Jahren dafür ein, dass besonders kühne Behauptungen auch besonders stichhaltige Beweise liefern müssen. In der evidenzbasierten Medizin liegt die Latte dagegen für alle gleich hoch: Für ein Schwurbelpräparat der Homöopathie gelten dieselben Regeln wie für einen in Phase II überzeugenden Checkpoint-Inhibitor.
In der Diagnose wird die A-Priori-Plausibilität übrigens ganz selbstverständlich berücksichtigt: Ob ein positiver Covid-Test falsch- oder richtig-positiv ist, hängt nicht nur von der Testgüte an sich ab, sondern auch von der Testperson. War sie in den Tagen vor dem Test alleine zuhause, ist das Ergebnis vermutlich falsch, hat sie jeden Abend Party gemacht, ist es wahrscheinlich korrekt.
Bildquelle: Eli Allan, Unsplash