Eine Patientin hat Koordinationsschwierigkeiten und kann nicht mehr laufen. Die Ärzte vermuten einen Schlaganfall – doch die tatsächliche Ursache liegt weit entfernt im Becken.
Eine 65-jährige Patientin wird wegen Koordinationsstörungen in die neurologische Abteilung aufgenommen. Anamnestisch liegen eine arterielle Hypertonie und eine Hypercholesterinämie vor, die Vormedikation besteht aus Ramipril und Atorvastatin. In den Tagen zuvor bemerkte sie eine Ungeschicklichkeit ihrer Hände und einen unsicheren Gang; die Symptome haben sich nun verschlechtert. Bei der neurologischen Untersuchung fällt eine generalisierte Ataxie auf, die Gehfähigkeit ist stark eingeschränkt. Außerdem bestehen eine leichte Dysarthrie und ein Downbeat-Nystagmus. Paresen oder Sensibilitätsstörungen bestehen nicht, ebenso wenig eine Aphasie oder kognitive Defizite. Das Reflexniveau ist unauffällig, die Pyramidenbahnzeichen sind negativ.
Aufgrund der relativ akut aufgetretenen Kleinhirnsymptomatik wird zunächst ein Schlaganfall im hinteren Stromgebiet vermutet, eine MRT des Schädels und eine kardiovaskuläre Risikodiagnostik mittels Langzeit-EKG, Echokardiographie und Duplexsonographie der hirnversorgenden Gefäße durchgeführt. Die Untersuchungen zeigen keine Auffälligkeiten. Es wird eine Lumbalpunktion durchgeführt, die eine leicht erhöhte Zellzahl von 11/µl und ein leicht erhöhtes Eiweiß zeigt. Die daraufhin durchgeführte Erregerdiagnostik bleibt negativ. Auch die serologischen Untersuchungen u. a. auf Lues, HIV und Vitamin-B12-Mangel ergeben keinen Hinweis auf die Ursache der Symptomatik.
In der Zwischenzeit bleibt der klinische Zustand der Patientin unverändert, die Ataxie ist weiterhin ausgeprägt. Schließlich wird eine Blutuntersuchung auf onkoneurale Antikörper durchgeführt, bei der Anti-Yo-Antikörper nachgewiesen werden. Es wird die Verdachtsdiagnose einer paraneoplastischen Kleinhirndegeneration gestellt und eine Tumorsuche durchgeführt. Hierbei wird eine Raumforderung im Becken nachgewiesen, die verdächtig auf ein Ovarialkarzinom ist. In der Bildgebung finden sich keine Hinweise auf Metastasen. Zur Behandlung des paraneoplastischen Syndroms wird eine Therapie mit hochdosiertem Methylprednisolon i. v. begonnen und bei ausbleibender Besserung zusätzlich mit intravenösen Immunglobulinen (IVIG) behandelt. Zur Behandlung der Tumorerkrankung wird die Patientin in die gynäkologische Abteilung verlegt, wo parallel die immunsuppressive Therapie fortgesetzt wird.
Bei Krebserkrankungen kann es zu fehlgeleiteten Immunreaktionen kommen, die sich gegen körpereigene Strukturen richten. Werden dabei Strukturen des Nervensystems angegriffen, kommt es zu paraneoplastischen neurologischen Syndromen. Diese Syndrome sind sehr selten, sie treten nur bei etwa einer von 10.000 Tumorerkrankungen auf. Dennoch sind diese Syndrome von hoher Relevanz, da sie oft sehr früh im Verlauf einer Krebserkrankung auftreten und deshalb oft deren erste Symptome verursachen. Bei 60–70 % der Patienten ist bei Auftreten der Erkrankung noch keine Krebsdiagnose bekannt. So besteht bei einer schnellen Diagnosefindung die Chance, den Krebs in einem frühen Stadium zu entdecken.
Die paraneoplastische Kleinhirndegeneration, an der die Patientin im Fallbericht leidet, ist nach der paraneoplastischen limbischen Enzephalitis das zweithäufigste paraneoplastische neurologische Syndrom. Sie ist mit verschiedenen Antikörpern gegen Proteine assoziiert, die in Neuronen des Kleinhirns vorkommen. Der häufigste dieser Antikörper ist Anti-Yo, der auch bei der beschriebenen Patientin nachgewiesen wurde. Dieser Antikörper richtet sich gegen Bestandteile der Purkinje-Zellen des Kleinhirns. Dies sind die wichtigsten Zellen der Kleinhirnrinde, welche exklusiv für die Kommunikation des Kleinhirns mit den anderen Regionen des Nervensystems zuständig sind. Werden sie durch die fehlgeleitete Immunreaktion angegriffen und zerstört, kommt es zu einem raschen Funktionsverlust des Kleinhirns. Meist ist die Funktion des Kleinhirns innerhalb von drei Monaten vollständig ausgefallen, so dass die Betroffenen auf den Rollstuhl angewiesen sind.
Neben dem Ovarialkarzinom kommt die paraneoplastische Kleinhirndegeneration auch bei Brustkrebs, kleinzelligem Lungenkarzinom und Hodgkin-Lymphom vor. Der jeweils nachgewiesene onkoneurale Antikörper kann einen Hinweis darauf geben, um welche Krebserkrankung es sich im Einzelfall handelt. So sind Yo-Antikörper fast ausschließlich mit Ovarial- und Brustkrebs assoziiert.
Bei zerebellärer Symptomatik und Nachweis eines entsprechenden Antikörpers muss intensiv nach dem zugrundeliegenden Tumor gesucht werden. Da der Tumor noch sehr klein sein kann, können Spezialuntersuchungen erforderlich sein. Wenn CT, Ultraschall und Mammographie keinen Tumor nachweisen, muss zusätzlich ein FDG-PET durchgeführt werden. Wird trotz intensiver Suche kein Tumor gefunden, sollte die Suche nach einigen Monaten wiederholt werden. Letztlich liegt der paraneoplastischen Kleinhirndegeneration fast immer ein Tumor zugrunde.
Da eine fehlgeleitete Immunreaktion für die Symptome verantwortlich ist, beruht die Therapie darauf, die Immunreaktion zu bremsen. Aufgrund der Seltenheit der Erkrankung gibt es keine randomisierten kontrollierten Medikamentenstudien, die Therapieempfehlungen basieren auf meist kleinen Fallserien. Klassischerweise werden Glukokortikoide oder intravenöse Immunglobuline eingesetzt. Auch Plasmapherese und Rituximab kommen in Frage. Alle genannten Therapien sind nur begrenzt wirksam. Das Fortschreiten der Symptome kann verlangsamt oder gestoppt werden. Eine deutliche Besserung der Ataxie tritt jedoch meist nicht ein, die meisten Patienten bleiben auf den Rollstuhl angewiesen.
Neben der Immuntherapie steht die Behandlung der Grunderkrankung im Vordergrund. Diese erfolgt – je nach vorliegender Krebserkrankung und Stadium – durch Operation, Chemotherapie und/oder Bestrahlung. Da die Tumoren häufig in einem frühen Stadium diagnostiziert werden, ist die Prognose gut. Auch die fortschreitende Degeneration des Kleinhirns kann durch eine effektive Tumortherapie aufgehalten werden. Eine Besserung der neurologischen Symptomatik ist jedoch meist nicht zu erreichen. Der beschriebene Fall ist ein Beispiel für die Bedeutung der interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen Neurologie, Radiologie und Onkologie.
Loehrer et al.; Update on Paraneoplastic Cerebellar Degeneration; Brain Sci. 2021 Oct 26;11(11):1414. doi: 10.3390/brainsci11111414.
Chatham et al; Anti-Yo-Associated Paraneoplastic Cerebellar Degeneration: Case Series and Review of Literature. Cureus. 2021 Dec 6;13(12):e20203. doi: 10.7759/cureus.20203.
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