Chronische Erkrankungen bei Kindern nehmen zu. Aber auch akute gesundheitliche Vorfälle sind an Schulen häufig. Brauchen wir eine deutschlandweite Einführung von Schulgesundheitsfachkräften?
Ein tragisches Beispiel für fehlendes medizinisches Wissen an Schulen ist der Fall der 13-jährigen Emily. 2019 kam es bei einer Schulfahrt zu einer schweren Ketoazidose durch Überzuckerung bzw. einen Mangel an Insulin. Die aufsichtshabenden Lehrerinnen waren jedoch nicht über Emilys Typ-1-Diabetes informiert. Obwohl das Mädchen sich häufig erbrach, schwächer wurde und ihr Zustand sich immer weiter verschlechterte, kam niemand auf die Idee, dass eine schwere Stoffwechselentgleisung dahinterstecken könnten. Emily wurde erst Tage später ins Krankenhaus eingeliefert und verstarb dort. Vor kurzem wurden die Lehrerinnen zu Geldstrafen verurteilt, sie haben aber gegen das Urteil Revision eingelegt.
Dabei sind solche Krankheitsbilder keine Seltenheit mehr: 15 Prozent aller Kinder und Jugendlichen sind von einer chronischen körperlichen oder psychischen Erkrankung betroffen. „Solche Erkrankungen erfordern oft eine gezielte medizinische Betreuung – auch in der Schule“, sagt Prof. Andreas Neu, ehemaliger kommissarischer Direktor an der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin des Universitätsklinikums Tübingen und Past Präsident der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG). „Zudem besteht bei ihnen das Risiko einer akuten Verschlechterung oder Entgleisung, etwa durch Veränderungen bei der Ernährung, außergewöhnliche körperliche Belastungen oder andere Störfaktoren.“ Aber auch Kindern ohne chronische Erkrankung sollten medizinisch betreut werden können – von leichten Verletzungen und vorübergehenden Beschwerden bis zu medizinischen Notfällen ist alles im Schulalltag vertreten.
Ein Bündnis medizinischer und bildungsbezogener Organisationen setzt sich daher seit Jahren dafür ein, dass in Deutschland flächendeckend Gesundheitsfachkräfte an Schulen – zunächst zumindest an den Grundschulen – eingeführt werden. Federführend ist dabei die DDG, weitere Beteiligte sind die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ), diabetesDE – Deutsche Diabetes-Hilfe und der Verband Bildung und Erziehung (VBE).
„Eine gute Gesundheit ist eine wichtige Voraussetzung für optimale Bildungschancen“, betont Neu. „Sie trägt dazu bei, dass Kinder und Jugendliche ohne Fehlzeiten am Unterricht teilnehmen können, sich auf die Lerninhalte konzentrieren können und sich wohlfühlen.“ Weiterhin können Gesundheitsfachkräfte zur Inklusion chronisch kranker Kinder und zur Sicherheit in Familien beitragen. „Die Eltern wissen dann, dass ihr Kind gesundheitlich gut versorgt ist“, erläutert der Facharzt für Kinderheilkunde und Diabetologe. „Außerdem werden sie nicht wegen einer akuten oder chronischen Erkrankung ihres Kindes in ihrer Berufsausübung eingeschränkt – das gibt ihnen auch wirtschaftliche Sicherheit.“ Chronisch kranke Kinder können durch Unterstützung beim Management ihrer Erkrankung die Erfahrung machen, dass sie an allem teilnehmen können – und so mehr Selbstvertrauen gewinnen.
Und Lehrer, die oft schon durch den Umgang mit Kindern mit unterschiedlichen Bedürfnissen und sprachlichen Barrieren stark ausgelastet sind, werden durch Schulgesundheitsfachkräfte entlastet. „Sie haben auch nicht die medizinische Expertise, um die Kinder bestmöglich versorgen zu können. Viele fühlen sich unsicher oder fürchten haftungsrechtliche Konsequenzen“, so Neu. Schließlich könnten durch die Neuerung auch Kosten im Gesundheitssystem eingespart werden.
„In vielen Ländern wie Großbritannien, den skandinavischen Ländern, Spanien oder den USA gehören Schulgesundheitsfachkräfte bereits zum Standard“, berichtet der Experte. „In Deutschland wurden sie seit 2016 in Modellprojekten an Schulen in Brandenburg und Hessen oder Mecklenburg-Vorpommern eingeführt und wissenschaftlich evaluiert.“ In Schleswig-Holstein gibt es inzwischen festangestellte Schulgesundheitsfachkräfte, in Hessen ist dies an 20 Schulen der Fall, 30 weitere sollen hinzukommen. In anderen Bundesländern laufen weitere – häufig jedoch zeitlich befristete – Modellprojekte.
Doch was genau ist eigentlich eine Schulgesundheitsfachkraft? „Es handelt sich um examinierte Gesundheits- und Kinderkrankenpflegekräfte, die zusätzlich eine Weiterbildung zur Schulgesundheitsfachkraft durchlaufen haben“, erläutert Neu. „Wichtig ist, dass sie ein klar definiertes Aufgabenprofil haben.“ Dieses wurde zum Beispiel in einem Arbeitspapier im Rahmen des Modellprojekts in den Bundesländern Hessen und Brandenburg entwickelt.
Die Aufgaben einer Schulgesundheitsfachkraft sind vielfältig:
Dabei sind Schulgesundheitsfachkräfte Teil eines multiprofessionellen Teams und arbeiten in Abstimmung mit allen anderen Berufsgruppen an der Schule zusammen.
Das Ziel, in Deutschland flächendeckend Schulgesundheitsfachkräfte einzusetzen, steht zwar im aktuellen Koalitionsvertrag – viel passiert ist aber bisher nicht. „Insgesamt stößt die Idee zwar auf offene Ohren und wird von vielen politischen Entscheidungsträgern quasi als Notwendigkeit gesehen“, berichtet Neu. „Allerdings wird das Thema gern zerredet oder die Zuständigkeit zwischen Bund und Ländern hin und her geschoben.“ Dabei habe die Corona-Pandemie gezeigt, wie schnell gesundheits- oder bildungsbezogene Maßnahmen an Schulen umgesetzt werden könnten. „Das einzige – nicht zutreffende – Gegenargument der Politik ist eigentlich, dass es mit Kosten verbunden ist“, kritisiert Neu.
Denn die Evaluation des Modellprojekts in Brandenburg und Hessen hat gezeigt, dass Schulgesundheitsfachkräfte zu finanziellen Einsparungen beitragen. „Zum Beispiel konnten Rettungsdienst-Einsätze durch die Anwesenheit einer Schulgesundheitsfachkraft deutlich reduziert werden“, berichtet Neu. „Denn oft wird bei einer harmlosen Verletzung, die zunächst schlimm aussieht, sonst häufig schnell ein Notarzt gerufen – mit entsprechend hohen Kosten.“ Außerdem würden Eltern seltener wegen gesundheitlicher Probleme ihrer Kinder am Arbeitsplatz ausfallen.
Weiterhin ergab die Evaluation, dass die Fachkräfte klar positive Auswirkungen auf die Gesundheit der Kinder, ihre Gesundheitskompetenz und ihre Bildungschancen haben und eine flächendeckende Einführung machbar und finanzierbar ist. „Dabei sollten unsere Vorstellungen natürlich realistisch sein“, sagt Neu. „So wäre es aus unserer Sicht schon ein großer Schritt, wenn dies bundesweit in allen Grundschulen umgesetzt würde.“ Die Auswertung legt nahe, dass auf etwa 700 Schüler eine Gesundheitsfachkraft kommen sollte – ein ähnlicher Schlüssel wie in den skandinavischen Ländern oder Großbritannien. „Ideal wäre es, wenn es pro Schule eine festangestellte Gesundheitsfachkraft gäbe“, sagt Neu. „Es ist aber auch denkbar, dass eine Fachkraft für mehrere Schulen auf dem gleichen Gelände zuständig ist.“ Der Einsatz in mehreren Schulen mit häufigem Wechsel zwischen den Schulen sei dagegen nicht sinnvoll.
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