In Mainz weiß man heute nicht, ob der Blick aus dem Fenster oder auf die gesundheitspolitische Lage schlechtere Laune bringt. Die Stimmung beim Deutschen Ärztetag schwankt zwischen Resignation und Kampfesgeist. Wir sind für euch vor Ort.
Es geht um viel in der Gesundheitspolitik: 15 Gesetze stehen laut BMG bevor, viele davon kurz vor ihrer finalen Verabschiedung. Nahezu jedes erfreut sich dabei großer Kritik aus allen Herrgotts-Interessensvertretungen. Die Grundlage für Diskussionen, Streit und immerhin auch Lösungen schien nie besser – ein Grund für mich, die Reise nach Mainz zum 128. Deutschen Ärztetag anzutreten. Passend zur Stimmung in der Ärzteschaft begrüßten mich an den namhaften Rheingoldhallen Nieselregen und graue Wolken statt Prunk und Sonnenschein. Doch die Schlechtwetter-Lethargie hielt nicht lange, wurde ich doch schon von Weitem mit Rasseln, Pfeifen und Lautsprecheransagen erinnert: Die berufsalltägliche Lage ist dermaßen desaströs, dass Ärzte den Denkern und Lenkern ordentlich Zähne zeigen wollen.
Ärzte aus ganz Deutschland protestieren beim Deutschen Ärztetag.
Dass der Minister heute wohl nicht den Haupteingang nutzen würde, war schnell offensichtlich. Zu meiner Überraschung entpuppte sich jedoch erst auf den zweiten Blick ein ganz anderer Buhmann für die anwesenden Ärzte: die eigenen Interessensvertreter. „Die KVen müssen uns anständig vertreten und entsprechend mit den Kassen in die Vergütungsverhandlungen treten. Es ist unvorstellbar, wieso die Kassen da den Hut aufhaben. Es ist doch eine einfache Rechnung, dass man für das bezahlt werden möchte, was man tut. Wenn Sie zum Bäcker gehen und ihm 60 Cent anbieten für ein Brötchen, das 80 Cent kostet, schmeißt der sie zur Tür raus“, teilt eine baden-württembergische Hausärztin ihren Unmut.
Ärzte sehen die Versorgung politisch gefährdet.
Viele Kollegen seien allein aus Verantwortungsgefühl heraus noch im Beruf. Die Anzahl derer, die mit einem verfrühten Abschied in den Ruhestand liebäugeln, sei groß. Noch konkreter macht ein HNO aus Rheinland-Pfalz seinem Frust Luft: „Ich fühle mich hier wie in DDR-Zeiten versetzt. Wir werden in Form von Regressen ausgepresst und das ist nicht die Politik in Berlin, sondern es sind die KVen, die uns bestehlen.“
Kritik an den KVen kommt auch aus der Fachärzteschaft.
Während sich das Wetter vor der Halle schneller besserte als die Stimmung, war es Zeit für einen parodistischen Einlass. Denn flankiert wurde der Eingang von vier Menschen in überlebensgroßen Kasperle-Kostümen – hier sollte heute jede Menge Theater stattfinden. Weiter zur aufwändigen Einlasskontrolle: Nach Personen- und Kofferkontrolle durften Spürhunde prüfen, ob DocCheck es auf den Gesundheitsminister abgesehen hat. Das wenig verwunderliche Ergebnis: Kein Sprengstoff in der Tasche.
Hier wird viel Theater versprochen.
Meine Ohren klingelten noch von den wütenden Parolen der Ärzte, als es in den Saal ging. Kurz ging ich davon aus, Zeuge eines Protests vom Who-is-Who der deutschen Ärzteschaft mit Zepter und Siegelring sein zu dürfen, doch schnell zeigte sich: Die Schwere des Samtvorhangs schien sich irgendwie auf die Kritikfähigkeit und Bissigkeit der Redner zu legen. Oder war es doch eher die bleierne Last der Themen? Jedenfalls ergoss sich Ärztepräsident Klaus Reinhardt weniger in einer Wutrede, denn in einer Auflistung, was man gern aus Berlin hätte und was man selbst bereits beigetragen hat. Nämlich „150 Einzelmaßnahmen zur Entbürokratisierung auf 30 Seiten eingereicht“, verbunden mit der Hoffnung, dass diese zeitnah umgesetzt würden. Auch wäre es längst an der Zeit, „neben einem Chemie- oder Autogipfel auch einen Gesundheitsgipfel im Kanzleramt zu etablieren“. Selbst die heiß umstrittene Krankenhausreform und die harte Kritik aller Länder sei nicht als Streit zu verstehen, sondern als Angebot zur Zusammenarbeit.
Einen thematischen Schwerpunkt legte Reinhardt mit seinen Appellen an den Minister hinsichtlich der Aus- und Weiterbildung. So müsse „die Reform des Medizinstudiums nun durchgeführt werden. Sie darf nicht im Streit über Geld zwischen Ländern und Bund“ scheitern. Für einen noch früheren Ansatz gab er dem Minister den Vorschlag, Kultus- und Gesundheitsministerkonferenzen zu vereinen und Gesundheitswissen verbindlich in deutsche Lehrpläne einzubinden. Auf der anderen Seite der Alterspyramide müsse man darüber nachdenken, die noch arbeitenden Ärzte mit Leckerlis bei Laune zu halten. Das Neueste: Steuervergünstigungen für alle, die über die Rente hinaus bei der Stange bleiben. Wer zumindest in Sachen GOÄ auf einen Akzent gehofft hatte, verlor nun restlos den Glauben, hier einen Kampf zu erleben. Mehr als der unrühmlich-mahnende Titel „größtes Beispiel für Staatsversagen im Gesundheitswesen“ war nicht drin.
Ob Lauterbach nun kurzfristig für seine Rede ebenfalls in den Weichspüler-Modus schaltete, bleibt unaufgeklärt. Nach dem obligatorischen politischen Mea culpa ging er jedenfalls auf die reinhardtsche Wunschliste ein. Für die anstehende Krankenhausreform sei der „Einsatz von Personalbemessungsinstrumenten unabdingbar“. Die Bürokratie in den Krankenhäusern und bei den Niedergelassenen sei unerträglich – die Vorschläge der BÄK wären willkommener Input. Weiter versprach er, die „Kultur des Misstrauens im eigenen Haus“ zu beenden. Insbesondere in Sachen Qualitätsüberwachung müsse man der Ärzteschaft mehr zutrauen und nicht alles prüfen. Und die Länder? Mit denen könne man ebenso reden wie mit der DKG oder KBV und BÄK. „Da bricht uns kein Zacken aus der Krone.“
„Auch kann es nicht sein, dass Ärzte aus dem Ausland abgeworben werden, die dort ausgebildet wurden und schließlich dort fehlen. Das ist unethisch und kann so nicht weitergehen. Wir sind ganz einfach zum Gelingen verurteilt, das Medizinstudium hierzulande neu auszurichten.“ Und als wäre das lauterbachsche Diktum der Unantastbarkeit der GOÄ gefallen, brachte der Zuspruch, dass „auch dieses Thema im Ministerium angekommen sei“ einen harmonischen Ausklang.
Am Ende brauchte es dann ein gutes Gedächtnis, um sich daran zu erinnern, dass es hier doch um kritische Verhandlung gehen sollte. So zumindest die klaren Ansagen eines Herrn Gassen, der von einer „Berliner Bedrohung für die Praxen“ sprach, dass im BMG „Politik gegen die Menschen in diesem Land gemacht wird“ und der vom Minister „angestrebte Wandel des Systems durchaus keine Zufallskomik sei“.
Wie weit man von übergreifendem Konsens entfernt ist, mag mit der Ankündigung eines Bruchs in der berufspolitischen Ethik deutlich geworden sein. „Wir haben die Praxen nie politisiert, aber wenn man sie anzählt und ihnen sagt ‚Wir wollen es eigentlich ganz anders haben, es ist nur eine Frage der Zeit, dann seid ihr alle weg‘, dann werden die Menschen auch alle aufgeklärt werden. Und dann wird man sehen, ob der Satz von Adenauer noch Bestand hat, dass man gegen Ärzte keine Politik machen kann. Und ich glaube, da wird es dann eine sehr klare Dokumentation des Wählerwillens geben, in welche Richtung es gehen soll“, so Gassen eindeutig. Mit den letzten hartnäckigen Ärzten, die ihre Banner vorm Gebäude einrollten, fand dann auch das bis hierhin entstandene Gefühl friedseliger Einigkeit wieder ein abruptes Ende.
Bildquelle: Richard Hill, DocCheck