Die Misteltherapie liegt bei Krebspatienten hoch im Kurs – dabei ist sie vollkommen nutzlos, wie zahlreiche Studien zeigen. Wann das fragwürdige Wundermittel sogar gefährlich werden kann, lest ihr hier.
Für Eilige gibt’s am Ende des Artikels eine Kurzzusammenfassung.
In Deutschland ist die Misteltherapie eine der am häufigsten eingesetzten Komplementärtherapien der Onkologie. Sie soll das Überleben verlängern, die Lebensqualität verbessern, aber auch die die Verträglichkeit von Chemotherapien oder anderen Behandlungsmöglichkeiten optimieren – damit jedenfalls werben Hersteller. Oft geht der Impuls zu Misteltherapien von Patienten aus. Was sollten Ärzte wissen? Ein Fall für den DocCheck-Faktencheck.
„Wir haben derzeit mehr als 100 Studien zur Misteltherapie“, sagt Prof. Jutta Hübner zu DocCheck. Sie ist Professorin für Integrative Onkologie und arbeitet am Universitätsklinikum Jena. „Die bisher vorliegenden Arbeiten zeigen keinen Nutzen für onkologische Patienten hinsichtlich ihrer Lebensqualität oder hinsichtlich ihres Überlebens.“
Hübner: „Ich wehre mich allerdings dagegen, weitere Studien zu fordern, denn das gesamte Konzept der Misteltherapie ist unklar.“ Anthroposophen hätten bislang kein transparent veröffentlichtes und wissenschaftlich überprüftes Konzept, wann welches Mistelpräparat mit welchem Therapieziel bei welcher Zielgruppe eingesetzt werde. Damit habe die Therapie „langsam etwas Mystisches“, so Hübner.
Doch wie ist es zu dem Hype gekommen? Die Weißbeerige Mistel (Viscum album) zählt zu den altbekannten Heilpflanzen. Sie enthält eine Vielzahl an Inhaltsstoffen, unter anderem Viscotoxine (zytotoxische Peptide), Flavonoide (sekundäre Pflanzenstoffe mit antioxidativen, antiinflammatorischen Eigenschaften), Polysaccharide mit möglicherweise immunstimulierender Wirkung, Lektine (Glykoproteine, die an Zellen binden und biochemische Reaktionen auslösen) sowie Phenolsäuren (aromatische Carbonsäuren).
Viscum album subsp. Abietis © Wikimedia Commons/ BerndH, CC BY-SA 3.0
Schon vor Jahren haben Forscher Effekte gefunden, und zwar bei verschiedenen Krebs-Zelllinien in vitro oder bei Mausmodellen (hier; hier u.v.m.). Wurden Patienten einbezogen, handelte es sich oft um Anwendungsbeobachtungen oder um einarmige Studien ohne adäquate Kontrollgruppe. Nur randomisiert-kontrollierte Studien (RCTs) oder Metaanalysen von RCTs liefern verlässliche Aussagen zur Evidenz.
Erschwerend kommt hinzu, dass Ergebnisse von Metaanalysen stark von der methodischen Qualität der eingeschlossenen Studien abhängen. Sprich: Wählen Forscher Arbeiten recht unkritisch aus, zeigen sich womöglich Fehlinterpretationen zu Gunsten von Mistelextrakten.
Metaanalysen werden auch durch die Heterogenität der eingeschlossenen Krebspatienten erschwert. Unterschiedliche onkologische Erkrankungen in verschiedenen Stadien machen es kaum möglich, Daten zusammenzuführen. Und nicht zuletzt sind bei vielen Autoren potenzielle Interessenkonflikte möglich, weil die Studien durch Hersteller von Mistelextrakten finanziert wurden.
Wie ist die Studienlage unter kritischem Blickwinkel zu beurteilen?
Eine Review und Metaanalyse ging der Frage nach, ob Mistelextrakte Fatigue bei onkologischen Patienten abschwächen. Die Arbeit umfasste 12 RCTs mit 1.494 Teilnehmern bzw. 7 retrospektive, nicht randomisierte Studien (NRSI) mit 2.668 Teilnehmern.
Die Heterogenität der Studien war in beiden Metaanalysen hoch. Zwar zeigten Mistelextrakte einen moderaten Effekt auf die krebsbedingte Fatigue. Nur erwies sich der Benefit als ähnlich groß wie körperliche Aktivität. Dabei ist die Studienqualität für körperliche Aktivität sehr hoch, während sie für die Mistel deutlich eingeschränkt ist.
Ziel einer systematischen, in zwei Teilen veröffentlichten Übersichtsarbeit war, Effekte auf die Endpunkte Überleben, Lebensqualität und Sicherheit zu geben (hier und hier). Hübner ist Letztautorin der Papers. Die Forscher fanden bei Recherchen in Literaturdatenbanken 3.647 Treffer. Sie schlossen 28 Veröffentlichungen mit 2.639 onkologischen Patienten ein.
Ärzte haben Mistelextrakte u. a. bei Blasenkrebs, Brustkrebs, Gebärmutterhalskrebs, bei Karzinomen des Corpus uteri, bei Eierstockkrebs, Magenkrebs, Bauchspeicheldrüsenkrebs, Darmkrebs, bei Gliomen, Kopf-Hals-Tumoren, Lungenkrebs, Melanomen und Osteosarkomen eingesetzt – in fast allen Studien zusätzlich zu einer konventionellen Therapie. Patientenrelevante Endpunkte waren das Gesamtüberleben (14 Studien, n=1.054), das progressions- oder krankheitsfreie Überleben oder das Ansprechen auf eine onkologische Therapie (10 Studien, n=1.091).
Die meisten Studien konnten keinen Effekt der Mistel auf das Überleben zeigen. Insbesondere qualitativ hochwertige Studien blieben Belege schuldig. Bezüglich der Lebensqualität lieferten 17 Publikationen Daten. Studien mit besserer methodischer Qualität zeigen geringe oder keine Auswirkungen auf die Lebensqualität.
Die beiden letztgenannten Publikationen schlugen in der Fachwelt hohe Wellen. Ärzte um Prof. Harald Matthes, Geschäftsführer des anthroposophisch orientierten Gemeinschaftskrankenhauses Havelhöhe, hatten in einem Brief an das Journal die Veröffentlichung methodisch kritisiert. Mehrere der Unterzeichner waren zum damaligen Zeitpunkt auch für Hersteller von Mistel-Präparaten tätig bzw. Mitglied in der Gesellschaft Anthroposophischer Ärzte in Deutschland.
Hübner und Kollegen hatten im gleichen Journal geantwortet, aufgrund der sehr heterogenen Daten aus Studien mit meist hohem Verzerrungsrisiko sei keine Meta-Analyse durchgeführt worden. Auch ein Cochrane-Review von Horneber et al. habe darauf verzichtet. „In Bezug auf das Gesamtüberleben ist nicht die Anzahl der statistisch signifikanten Ergebnisse entscheidend, sondern deren wissenschaftliche und methodische Zuverlässigkeit. Wie wir in unseren Übersichtsarbeiten beschreiben, hält keine dieser Studien einer gründlichen wissenschaftlichen Bewertung stand“, heißt es weiter.
Die aktuelle Publikation von Hübner et al. zeigt, dass eine getrennte Auswertung der Überlebensdaten und Metaanalysen der Studien nach deren methodischer Qualität die Ergebnisse beider systematischer Reviews bestätigen. Studien hoher Qualität zeigen keinen Überlebensvorteil.
Nur warum ist in der S3-Leitlinie „Komplementärmedizin in der Behandlung von onkologischen PatientInnen“ dann zu lesen, die subkutane Gabe von Mistelgesamtextrakt könne zur Verbesserung der Lebensqualität bei Patienten mit soliden Tumoren „erwogen werden“? Dazu muss man wissen, dass die Formulierung gewählt wurde, wenn es keine belastbare Evidenz für einen Nutzen, aber auch kein hohes Schadenspotential gibt.
Doch die Frage nach Nebenwirkungen sei interessant, betont Hübner. Unabhängige Studien dazu gebe es praktisch nicht. Publikationen mit Daten aus Patientenregistern seien „nicht belastbar“, da die Selektion der Patienten und die Berichterstattung der Nebenwirkungen nicht transparent und überprüfbar sei.
Ein mögliches Schadenspotenzial der Misteltherapien hält sie für denkbar: „Nachweislich aktivieren Lektine der Mistel unspezifisch Immunzellen im Körper. Wir können nicht ausschließen, dass etwa bei hämatologischen Patienten Leukämie- und Lymphomzellen aktiviert werden.“ Außerdem sei damit zu rechnen, dass Patienten unter Tumormedikamenten ein erhöhtes Risiko für Überempfindlichkeitsreaktionen (etwa bei Oxaliplatin, Taxanen, Antikörpern) hätten. Das gelte auch für moderne Immuntherapien.
Hübner: „Leider gibt es dazu keine systematische Erfassung. Da Onkologen meist nicht wissen, dass ihre Patienten die Mistel einsetzen, fällt der Zusammenhang nicht auf. Mehrere Fallberichte zeigen aber, dass diese Ereignisse existieren.“
Doch Diskussionen rund um die Evidenz von Misteltherapien mögen zu gewissem Maße hausgemacht sein. Ihre Zulassung ist in Deutschland nicht an Studien geknüpft; Misteltherapien zählen vielmehr zu den „besonderen Therapierichtungen“ laut Arzneimittelgesetz (AMG).
Die US-amerikanische Food and Drug Administration (FDA) beispielsweise hat Mistelextrakte nicht zur Behandlung von Krebs oder anderen Erkrankungen zugelassen. Ihr Einsatz ist nur im Rahmen klinischer Studien möglich.
Effektivität? Fehlanzeige! Die meisten Studien zur Misteltherapie zeigen weder einen Bonus für die Lebensqualität noch für das Überleben von Krebspatienten. Dazu gesellen sich Bedenken wegen gefährlicher Wechselwirkungen mit Standardkrebstherapien.
Patientenwunsch trifft auf lasche Regeln: In Deutschland schreiten Patienten oft selbst zur Tat und bitten um Misteltherapie, die hierzulande trotz wackeliger Beweislage recht locker zugelassen ist. In den USA ist sie wegen Sicherheitsbedenken nicht zugelassen.
Wissenschaftliches Stirnrunzeln: Obwohl die Misteltherapie oft in Fachkreisen für Stirnrunzeln sorgt, hat sie es irgendwie in die Leitlinien geschafft – mit einem großen Aber. Kritik an den Methoden und die Nähe mancher Forscher zu Mistelherstellern lassen die wissenschaftliche Glaubwürdigkeit öfter mal auf der Strecke bleiben.
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