Viele Kraftsportler schwören beim Protein auf die „Viel-hilft-viel“-Philosophie. Das bringt nicht nur nichts, sondern ist auch gefährlich. Was ihr euren Pumper-Patienten raten könnt, erfahrt ihr hier.
Für Eilige gibt’s am Ende des Artikels eine Kurzzusammenfassung.
Der Eiweißmarkt boomt. Proteinangereicherte Milchprodukte („High Protein Joghurt“), Eiweißbrot, Proteinriegel, -shakes und -pulver finden sich in breiter Palette in fast jedem Discounter. Und unter einschlägigen Fitnessstudiobesuchern, die unverhohlen Muskelvolumen und -definition als Hochziel ihrer Bemühungen artikulieren, ist der Glaube an die Wirksamkeit einer Tagesration von mindestens 4 g Eiweiß für jedes Kilo ihrer gebuildeten Leiber unumstößlich. Das ist die vier- bis fünffache Proteinmenge, die „Otto Normalsportler“ ohne Hang zum Extremen empfohlen wird. Hersteller besagter High-Protein-Produkte bestärken die „Wannabe-Arnis“ in ihrer „Viel-hilft-viel“-Philosophie. Auch die Studiobetreiber freut’s, mit Proteinshake und -pulvern lässt sich gut und völlig legal massig Umsatz machen.
Die Konsumenten von der Nutzlosigkeit überbordender Proteinaufnahme zu überzeugen, ist bislang kaum von Erfolg beschieden. Dabei hat der Eiweißhype etliche Arbeitsgruppen zur Suche nach der optimalen Eiweißration für Muskel- und Kraftzuwachs motiviert, unter der Voraussetzung, dass keine anderen Organe Schaden nehmen. Eine systematische Übersichtsarbeit und Metanalyse aus 49 randomisiert kontrollierten Studien (RCTs), in die Daten von fast 1.900 kraftsportlich Aktiven einflossen, ergab, dass eine trainingsbegleitende Erhöhung der Proteinaufnahme bis zu einem Wert von 1,6 g/kg Körpergewicht (KW) den Umfang des Kraftzuwachses sowie die Vermehrung fettfreier Körpermasse im Vergleich zu niedrigerer Proteinzufuhr erhöht. Eine weitere Steigerung auf über 1,6 g/kg KW bleibt demnach ohne Wirkung auf beide Parameter. Diese Resultate gelten alters- und geschlechtsunabhängig, mit der Einschränkung, dass Daten kraftsportlich aktiver Frauen deutlich unterrepräsentiert waren.
Die Bedeutung einer guten Eiweißversorgung ist kein kraftsportliches Exklusivthema, doch die hohe Protein-Relevanz für andere Anforderungsprofile bis hin zu stark ausdauerdominierten Belastungen wurde lange eher stiefmütterlich behandelt – auch von der Wissenschaft. Dabei ist die Abkehr von einseitigen Trainingsroutinen zugunsten von vielfältigen Regimes, die Kraft-, Ausdauer-, Koordinations- und Stabilisierungselemente beinhalten, längst State of the Art – insbesondere, was die Empfehlungen für gesundheitssportliche Aktivitäten betrifft. Vor diesem Hintergrund verdient eine kürzlich im Journal of the International Society of Sports Nutrition publizierte Interventionsstudie Beachtung, die die Wirkungen verschieden hoher Proteinaufnahmen auf die Leistung, Körperzusammensetzung und Gesundheit von Aktiven mit unterschiedlichen körperlichen Anforderungsprofilen untersuchte.
Das iranisch-australische Forschungsteam rekrutierte 48 gesunde Männer (Alter: 26 ± 6 J, BMI: 25,6 ± 2,9 kg/m2). Einschlusskriterien waren eine mindestens einjährige kraftsportliche Trainingshistorie mit 3 oder 4 Einheiten pro Woche, eine gesunde Schlafhygiene mit 7–8 Stunden Nachtschlaf, der Totalverzicht auf anabole Steroide und andere leistungssteigernde Substanzen sowie eine Proteinaufnahme unter 1,6 g pro Tag und kg KW (EW/Tg kg KW). Nach Randomisierung auf vier 12er-Gruppen wurden je zwei verschiedene standardisierte Trainingsprogramme und Proteinaufnahmeregimes wie folgt den einzelnen Kohorten zugeordnet:
Die Ernährungspläne zur Sicherung der Protein- und Gesamtenergieaufnahme wurden unter Berücksichtigung individueller Nahrungspräferenzen unter Anleitung von Ernährungsberatern erstellt.
Die ursprünglich auf 6 Monate anberaumte Trainingsdauer musste coronabedingt auf 16 Wochen verkürzt werden. Messpunkte waren Tag 0 (1 Woche vor Aufnahme des Trainingsprogramms), Woche 9 und Woche 18 (d. h. 2 Wochen nach der Trainingsperiode) jeweils zur gleichen Tageszeit. An allen Messtagen wurden folgende Messungen durchgeführt:
In allen vier Probandengruppen wurden signifikante Trainingserfolge für alle Leistungsparameter gemessen. Unabhängig von Trainingsmethode und aufgenommener Proteinration zeigten sich hinsichtlich der Körperzusammensetzung sowie für die meisten Leistungsparameter qualitativ und quantitativ ähnliche Veränderungen. So lag etwa die Zunahme an fettfreier Masse für alle vier Kohorten zwischen 3 und 4 %. Erwartbar verzeichneten nur die beiden auch die Ausdauer trainierenden CT-Gruppen einen Gewinn an VO2max. Die Höhe der Proteinaufnahme – 1,6 oder 3,2 g EW/Tg kg KW – hatte dabei keinen Einfluss. Auch hinsichtlich des Gewinns an Kraftausdauer sowie bei der Sprunghöhe (Schnellkraft) hatten die Kombinierer gegenüber den reinen Kraftathleten etwas die Nase vorn. Und auch hier brachte die doppelte Proteinmenge keinen zusätzlichen Effekt. Einzig der durch reines Krafttraining erzielte Maximalkraftgewinn (1RM der KT2-Probanden) fiel bei 3,2 g/kg KW täglicher Proteinaufnahme signifikant etwas höher aus als beim Krafttraining mit „nur“ 1,6 g/kg.
Ob es sich aus sportlicher Sicht lohnt, seinen täglichen Eiweißverzehr zugunsten einer etwas gesteigerten Maximalkrafttrainingswirkung auf das Drei- bis Vierfache der empfohlenen Normalration zu steigern, muss jeder für sich entscheiden. Dabei sollte aber der gesundheitliche Aspekt mit ins Kalkül gezogen werden. In der medizinischen Fachwelt wird die besonders von jungen Männern unter dem Aspekt der muskelfixierten „Selbstoptimierung“ praktizierte „Proteinmast“ mit Sorge, aber im Hinblick auf gesundheitliche Risiken auch kontrovers diskutiert. Dass eine sehr proteinreiche Ernährung negative Auswirkungen auf die Nierenfunktion, insbesondere auf die glomeruläre Filtrationsrate haben kann, legten bereits frühere Studien nahe (hier und hier). Daher besteht weitgehend Einigkeit, dass bei vorgeschädigter bzw. akut eingeschränkter Leber und/oder Nierenfunktion von hoher Proteinzufuhr abgesehen werden sollte. Aber die Frage, welchen Risiken sich völlig gesunde Menschen mit einer auf Dauer deutlich über 1,6 g/kg KW gesteigerten Proteinaufnahme aussetzen, ist bislang nicht schlüssig beantwortet (siehe Studien hier und hier).
Die im Rahmen der aktuellen Studie gemessenen Leber- und Nierenwerte liefern zumindest ein klares Bild. In beiden Kohorten mit der hohen täglichen Proteinaufnahme von 3,2 g EW/Tg kg KW wurden zwei Wochen nach Ende der 16-wöchigen Interventionsdauer signifikante Werterhöhungen gemessen, die in der Kombinationstrainingskohorte durchweg höher ausfielen als in der Krafttrainingsgruppe. Dabei lagen die Leberwerte (γ-GT, GOT, GPT) gerade noch im Referenzbereich, wohingegen die Nierenwerte (Harnstoff, Kreatinin) bereits die Obergrenze überstiegen. Die Probanden der anderen beiden Trainingsgruppen (KT1, CT1), die täglich 1,6 g/kg KW Eiweiß zuführten, zeigten keine Veränderungen ihrer Leber- und Nierenwerte.
Wie nachhaltig die mit der High-Protein-Diät assoziierten Leber- und Nierenwertanstiege sind, lässt sich auf Basis der 16-Wöchigen Interventionsdauer mit nur zweiwöchiger Nachbeobachtung nicht beurteilen. Die ursprünglich geplante 6-monatige Studiendauer wäre hier schon aussagekräftiger gewesen.
Die Belastbarkeit der vorgestellten Studie ist aufgrund der Zahl (48) und Auswahlkriterien (trainingserfahren, männlich, jung) der Probanden sowie der Interventionsdauer von 16 Wochen ohne längere Nachbeobachtung begrenzt. Dennoch liefert sie unter Einbeziehung genannter früherer Studien einen Hinweis, potentielle Gefahren einer längerfristig auf mehr als das Doppelte der DGE-Empfehlung erhöhten Proteinaufnahme im Blick zu haben – auch für junge gesunde Personen. Die Handwerkerweisheit zum Umgang mit Schrauben – „nach fest kommt fester, nach fester kommt ab“ – sollte analog auch für die Eiweißaufnahme gelten. Eine tägliche Ration von 1,6 g/kg KW ist bereits eine Proteinmenge, die deutlich über den Empfehlungen für Personen liegen, die „nur“ hobby- oder leistungsbezogen breitensportlich aktiv sind (1–1,2 g/kg). Mit 1,6 g EW/Tg kg KW lassen sich sogar im Hochleistungsbereich bei entsprechendem Training hohe Zuwächse an verschiedenen Kraft- und Ausdauerparametern erzielen, ohne dabei messbare Risken für die Leber- und Nierengesundheit einzugehen. Die Proteinaufnahme über das bereits in früheren Arbeiten ermittelte 1,6 g-Limit zu steigern, könnte allenfalls für einen auf Maximalkraft spezialisierten Nischenbereich von Belang sein, der aber unbedingt über die in ihrer Tragweite nicht abschätzbaren Risiken für die Leber- und Nierengesundheit aufzuklären ist.
Mit Sorge geht der Blick auf einen dem Selbstoptimierungswahn verfallenen Kreis vorwiegend junger männlicher Studiobesucher, die ihren Adoniskomplex mit einer trainingsbegleitenden Proteinmast befrieden. Aufklärungsarbeit ist hier kein leichtes Unterfangen, denn Nahrungsergänzungsmittelindustrie und ihre in Internetforen influencenden „Experten“ haben wenig Interesse an Genügsamkeit in Sachen Aminosäure- und Eiweißsupplementen.
Bildquelle: Gorilla Freak, Unsplash; Anastase Maragos, Unsplash