Tante Erna war eine rüstige Rentnerin, ging mit 80 Jahren zur Seniorengymnastik, fuhr Auto und organisierte sich. Plötzlich muss sie ins Krankenhaus, ihr Zustand verschlechtert sich. Die Ärzte tippen auf Dehydration – und irren sich.
Eine rüstige Rentnerin, die immer selbstständig allein lebte und aktiv am Leben teilnahm, landet plötzlich dehydriert im Krankenhaus. Keine Woche später verstirbt sie. Was ist da schiefgelaufen? Hätten die Angehörigen etwas tun können? Ein Erfahrungsbericht aus der Sicht einer Betroffenen mit ärztlichem Hintergrund.
Hätte ich vorher gewusst, dass mein erster Besuch bei der Schwester der Oma meines Freundes, genannt Tante Erna, der Letzte sein wird, wären wir mit Sicherheit länger geblieben. Denn keine zwei Monate später – mein Freund und ich waren gerade im Sommerurlaub in Süddeutschland – erreichte uns der Anruf meiner Quasi-Schwiegermutter, die uns aufgebracht über die Krankenhauseinweisung der Tante berichtete. Als Ärztin fiel diese familiäre Ausnahmesituation natürlich sofort in meinen Zuständigkeitsbereich.
Ich befragte zunächst die Schwiegermutter nach Informationen und versuchte im Anschluss das Krankenhaus zu erreichen. Dabei war ich von dieser Nachricht total überrascht. Denn Tante Erna war eigentlich topfit bis zu ihrem hohen Alter von 80 Jahren und nahm immer noch aktiv am Leben teil. Sie hatte einen Kleinwagen, kümmerte sich selbst um ihre Einkäufe und ging sogar regelmäßig zur Seniorengymnastik. Und bei meinem ersten und letzten Besuch bei ihr wirkte sie auch geistig total auf der Höhe. Was war also geschehen? Warum landet diese rüstige Rentnerin von jetzt auf gleich mit Notarzt im Krankenhaus?
Um die medizinische Auflösung vorwegzunehmen: Tante Erna wurde an einem Montag nach einem Notruf durch die besorgten Nachbarn mit der Verdachtsdiagnose einer klassischen Dehydration im Hochsommer ins Krankenhaus eingewiesen und verstarb am folgenden Samstag mit der diagnostisch bestätigten Diagnose eines Ovarialkarzinoms im Endstadium. Hätte ich das als Ärztin mit einigen Jahren Berufserfahrung bei meinem kurzen Besuch erkennen können?
Vielleicht ja, denn ab dem Zeitpunkt der Krankenhauseinweisung hatte ich eine maligne Erkrankung im Hinterkopf. Denn die Tante hatte wohl in den letzten Monaten erheblich Gewicht verloren. Vermutlich fragte ich sie deswegen auch damals, ob diese Gewichtsabnahme gewollt oder unbeabsichtigt gewesen sei. Sie schien auf diese Frage vorbereitet zu sein und berichtete von Intervallfasten. Da sie vorher ein wenig Übergewicht hatte, war diese Gewichtsabnahme natürlich alles andere als schlecht für ihre Gesundheit. Und so beließ ich es bei meiner ersten Frage und ging nicht weiter auf das Thema ein.
Zwar sprachen wir über ihre internistischen chronischen Erkrankungen, darunter eine Herzschwäche mit Marcumar-Therapie – von einer schwerwiegenden Krebserkrankung war allerdings zu keiner Zeit die Rede. Wusste sie es nicht? Hatte sie vielleicht bereits abgeschlossen? Während wir noch versuchten, mit einem Stationsarzt aus dem Krankenhaus zu sprechen, gingen mir sehr viele Fragen durch den Kopf – vermischt mit einigen Selbstvorwürfen.
Was dann in einem kleinen Krankenhaus der Grundversorgung in den folgenden Tagen nach der Krankenhauseinweisung geschah, war mehr als traurig. Ich konnte zwar mit einer jungen Assistenzärztin sprechen. Die verlas mir allerdings ausschließlich das Protokoll des Notarztes und behandelte ohne weitere Diagnostik die Verdachtsdiagnose einer Dehydration – gab also Flüssigkeit per infusionem. Da wir der Tante allerdings wenige Wochen zuvor mehrere Kästen Wasser besorgt hatten, die auch nicht mehr voll in der Wohnung standen, zogen wir diese Diagnose erheblich in Zweifel. Leider wirkte die Ärztin wenig kompetent auf mich und verwies mich an die Oberärztin und wollte sich später noch mal melden. Auf diese Rückmeldung warteten wir jedoch vergebens.
Zu unserer Überraschung wurde an anderer Stelle Tempo gemacht: Bereits am nächsten Tag hatte eine Dame vom Sozialen Dienst zusammen mit der Schwiegermutter eine Kurzzeitpflege organisiert. Tante Erna sollte schon nach zwei Tagen entlassen und in die Kurzzeitpflege überführt werden. Behandelt wurde immer noch die Dehydration. Eine weitere Diagnostik gab es nicht.
Als es der Tante auch am Mittwoch immer noch sehr schlecht ging, hatte ich einen etwas kompetenteren Arzt am Telefon. Diesem gegenüber äußerte ich meinen Verdacht auf eine maligne Erkrankung aufgrund des Gewichtsverlustes und sprach die Empfehlung weiterer bildgebender Diagnostik aus. Der Arzt sagte mir, er müsste das erstmal mit seiner Oberärztin besprechen und vertröstete mich auf das Ende der Woche.
Und dann ging leider alles ganz schnell. Am Freitagmorgen erhielten wir dann die Nachricht, dass ein CT vom Donnerstag ein metastasiertes Ovarialkarzinom ergeben hätte. Mittlerweile war die Tante gar nicht mehr ansprechbar und so beendeten wir kurz entschlossen unseren Urlaub und wollten uns schnellstmöglich auf die Rückreise machen. Schließlich sollte sich mein Freund noch von seiner geliebten Tante verabschieden können.
Während der Rückfahrt, mein Freund war völlig durch den Wind, konnte ich noch einmal mit dem Stationsarzt sprechen und bat um eine ausreichende Schmerzmedikation in Kombination mit Flüssigkeitsgabe und künstlicher Ernährung, damit die Tante es noch bis zum Wochenende schafft. Ich drückte also bei der Rückfahrt auf das Gaspedal und glücklicherweise kamen wir am Samstagmorgen noch rechtzeitig im Krankenhaus an. Ob Tante Erna noch viel mitbekommen hat, wissen wir nicht. Jedenfalls war sie in ihren letzten Stunden nicht alleine und ist dann hoffentlich schmerzbefreit eingeschlafen.
Auch wenn es quasi noch ein halbwegs „glückliches“ Ende gab, bleibt ein bitterer Nachgeschmack. Denn meiner Ansicht nach erfolgte die Diagnostik viel zu spät. Die alte Dame lag mit einer Fehldiagnose allein in einem Zimmer, ohne dass wirklich eine Behandlung stattfand. Und wer weiß: Vielleicht hätte es auch ohne meine Vermutung beim Telefonat gar keine weitere Diagnostik gegeben und mein Freund hätte vielleicht das Versterben seiner Tante verpasst.
Auch wenn eine frühere Diagnostik natürlich nichts mehr an der finalen Diagnose hätte ändern können, zeigt dieses Beispiel einmal mehr die zunehmenden Engpässe in unserer Gesundheitsversorgung. Mit einer besseren Personalausstattung wäre das alles vielleicht anders gelaufen.
Die Autorin ist der Redaktion bekannt, möchte aber anonym bleiben.
Bildquelle: Andreea Popa, Unsplash