Ein Tumorpatient kommt mit starken Schmerzen in der Brust in die Klinik – und wird in meine HNO-Praxis weitergeleitet. Schnell wird mir klar: Sein Kehlkopfkrebs hat mit dem Leiden nichts zu tun. Was könnte dem Mann nur fehlen?
Es ist ein üblicher Freitag: Wie immer ist bereits gegen 10 Uhr das Wartezimmer voll und an der Anmeldung herrscht Gedränge. Ob Notfall oder Termine, alle kommen gleichzeitig, alle haben es eilig. Ich versuche, die Warteliste abzuarbeiten und die Ruhe zu bewahren – ich kann mich schließlich nicht zweiteilen. Auf einmal kommt die MFA von der Anmeldung ins Wartezimmer: Einer unserer Tumorpatienten habe sich angekündigt.
Oh Mist, denke ich beunruhigt und frage direkt nach: „Hat er Atembeschwerden?“ Die MFA verneinte. Allerdings sei es etwas seltsam: Er sei wohl vom Krankenhaus zu uns geschickt worden. Aha, sehr merkwürdig, es ist ja eher unüblich, dass jemand von der Klinik in die Praxis geschickt wird. Dann warte ich wohl mal ab, was da kommt.
Gegen 11 Uhr trifft Herr M. ein. Zur Vorgeschichte: Herr M. ist 52 Jahre alt. Vor drei Jahren wurde ein ausgedehntes Larynxkarzinom mit zervikalen Lymphknotenmetastasen festgestellt. Es wurde eine Laryngektomie mit beidseitiger Neck Dissection und Anlage einer Provox-Prothese sowie eine anschließende Radiochemotherapie durchgeführt. Zudem besteht seither eine Oesophagusstenose; eine Bougierung dieser wurde bereits zweimal durchgeführt.
Aktuell befindet sich Herr M. in einem erkennbar eingeschränkten Allgemeinzustand. Es geht ihm offenbar nicht gut, er ist unruhig. Auf die Frage nach seinen Beschwerden gibt er starke retrosternale Schmerzen an. Die seien das erste Mal nach einem einmaligen Erbrechen vor vier Tagen aufgetreten. Auf einer Skala von 1 bis 10 gibt er die Schmerzen mit einer 10 an. Momentan würde er morgens und abends 50 Tropfen Novalgin® einnehmen, anders könne er dies nicht aushalten. Die Atmung sei kein Problem, auch Schluckbeschwerden habe er nicht, Anzeichen für einen Infekt wie Fieber oder Husten verneint Herr M.
In der HNO-ärztlichen Untersuchung zeigt sich ein insgesamt unauffälliger Untersuchungsbefund bei Z. n. Laryngektomie; auch endoskopisch ergibt sich kein Hinweis auf ein Rezidiv. Die Provox-Prothese ist im Schluckversuch dicht.
Und wie ist Herr M. nun bei mir gelandet? Wegen der starken retrosternalen Schmerzen ist er zunächst in die Kardiologie eingewiesen worden. Dort wurde diesbezüglich alles durchgecheckt und eine kardiale Ursache ausgeschlossen. Also wurde er entlassen und sollte sich bei seinem Onkologen vorstellen. Nun haben die HNO-Tumorpatienten in der Regel keinen Onkologen, sondern uns, niedergelassene HNO-Ärzte als primären Ansprechpartner. Und in dieser Funktion muss ich mir nun überlegen, was nun als Ursache für die Beschwerden von Herrn M. am ehesten in Frage kommt. Natürlich muss primär ein Rezidiv (trotz unauffälligem Lokalbefund) oder eine weitere Metastasierung ausgeschlossen werden.
Zudem haben Patienten mit Larynxkarzinom wegen der Noxen und der Feldkanzerisierung eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für ein Zweitkarzinom im Bereich der oberen Atem- und Speisewege. Aus diesen Überlegungen heraus und da es Herrn M. offensichtlich schlecht geht, stelle ich die Einweisung in die HNO-Klinik aus, die ihn bereits voroperiert hatte und rate ihm, sich direkt dorthin zu begeben.
Einige Wochen später erhalte ich einen Arztbrief aus der HNO-Klinik. Herr M. war, wie besprochen, direkt im Anschluss an die Vorstellung bei mir dort in der Ambulanz erschienen. Auch die dortigen Kollegen wollten zunächst ein erneutes malignes Geschehen ausschließen. Die Aufnahmeuntersuchung ergab einen unauffälligen Befund, eine Panendoskopie wurde nach dem Wochenende anberaumt. Es erfolgte präoperativ ein Re-Staging, bestehend aus CT-Hals und -Thorax einschließlich Oberbauch. Interessanterweise zeigte sich im CT-Oberbauch eine massiv verschwollene Gallenblase, die übrigen CTs ergaben keinen pathologischen Befund, ein Hinweis auf ein Lokalrezidiv oder Zweitkarzinom ergab sich glücklicherweise nicht. Herr M. wurde mit der Diagnose akute Cholezystitis in die Allgemeinchirurgie verlegt und dort die Cholezystektomie durchgeführt. Nach einigen Tagen konnte er beschwerdefrei entlassen werden.
Natürlich denkt man bei einem Tumorpatienten mit Beschwerden im oder in der Nähe des Primärtumors sofort an ein Rezidiv oder Zweitkarzinom. Und jeder guckt logischerweise auch vorrangig in seinem Fachgebiet nach, ob da alles in Ordnung ist. Aber natürlich kann auch ein Tumorpatient davon unabhängige Erkrankungen haben. Auf eine von der Gallenblase ausgehende Ursache hätte ich nie getippt, ebenso wenig wie die Kardiologen oder die HNO-Kollegen in der Klinik. Die Symptomatik war nicht wirklich typisch, v. a. das Fehlen von Infektionszeichen und die Schmerzlokalisation passten nicht. Dieser Fall zeigt einmal mehr, dass man versuchen sollte, den Patienten als Ganzes zu sehen und möglichst nicht aufgrund entsprechender Vorerkrankungen in eine Schublade zu stecken.
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