Meine Krebsdiagnose hat mich auf allen Ebenen überfordert – doch das wollte niemand hören. Welcher Tabubruch mir schließlich geholfen hat, erfahrt ihr hier.
Als ich anfing, zu bloggen, wollte ich zunächst nur Wissen vermitteln. Das war dem journalistischen Arbeiten verwandt und damit kannte ich mich aus. Ich wollte darlegen, wie die Abläufe auf der Station sind, was wichtig ist. So ganz praktisch. Denn wie die meisten, die eine Krebsdiagnose aus dem Nichts bekommen, war auch ich zunächst überfordert. Der Takt der schlechten Nachrichten war hoch und die formellen und medizinischen Aspekte, um die ich mich kümmern sollte, überwältigend.
Nach kurzer Zeit – ging ja gar nicht anders – hatte ich mir mit der Hilfe meines Mannes einiges an Know-how angeeignet, das ich sehr gerne an meine hauptsächlich weiblichen Mitpatienten auf der Station weitergab. Eine Schwester meinte mal: „Sie können bald ein eigenes Büro mit Sprechzeiten hier einrichten.“ Dringend notwendig wäre das ohne Frage gewesen.
Daraus entwickelte sich allerdings schnell ein weiterer Ansatz: Ich wollte zeigen, dass ein Leben nach der Diagnose lebenswert ist. Dass wir alle Träume, Wünsche und Pläne haben, die wir gedenken, umzusetzen, auch wenn es jetzt im Moment vielleicht etwas schwierig ist. Und damit begann das Persönliche.
Das Veröffentlichen dieser Texte hat mich am Anfang viel Mut gekostet. Als der Beitrag fertig war und ich auf Senden klickte, dachte ich: „Jetzt ist er raus, der Blogbeitrag, oh je. Was wohl die Leserinnen und Leser sagen werden?“
Doch da kam erst mal nichts, gar nichts. Wer kannte mich schon? Wer wusste überhaupt von meinem Zellenkarussell? Nicht viele. Die meisten waren Verwandte und Freunde. Schon komisch, dass ich damals so dachte – dabei war ich das Veröffentlichen von der Tageszeitung doch gewohnt. Wenn meine Artikel erschienen, wurden diese von zahlreichen Lesern in NRW gelesen. Da hätte ich viel nervöser sein müssen.
Was jetzt anders war, war meine ungewollte Verbundenheit mit einem Thema, das in Deutschland immer noch mit einem Tabu belegt ist. Denn: Über Krebs spricht man nicht. Genau das dachte übrigens eine Boutiqueverkäuferin. Als die Dame in einem Verkaufsgespräch erkannte, dass mein Pflaster am Schlüsselbein wohl auf eine Port-OP zurückzuführen ist, befand ich mich im Handumdrehen in einem Dialog, der alles ins Rollen bringen sollte.
Nach wenigen Sekunden des Erkennens und Zuordnens konfrontierte sie mich ungefragt mit ihrer Geschichte: „Sie haben Krebs, ne?! Das sehe ich sofort. Meine Schwester hat das auch und jammert uns nur die Ohren voll“, polterte sie mir entgegen. Nach einer kurzen Pause, in der ich ihr versuchte, mitzuteilen, dass eben jeder Mensch die Krebsdiagnose anders verarbeitet, legte sie nach: „Die Hannelore Elsner hat das schon richtig gemacht. Niemanden hat sie belästigt mit ihrem Krebs, tolle Frau.“
Wie schnell ich den Laden verlassen habe, erinnere ich mich nicht mehr. Im Rausgehen rief ich ihr noch zu: „Ich möchte sie nicht weiter mit meinem Einkauf belästigen. Tschüss und ein schönes Leben noch.“
Ich war wütend, extrem wütend sogar über so viel Unverschämtheit und Respektlosigkeit. Noch am selben Tag begann ich mit dem Schreiben für meinen Blog Das Zellenkarussell. Diese unverblümte Denke war die Initialzündung für das, was ich inzwischen seit August 2019 tue: über das Leben nach der Krebsdiagnose bloggen, schreiben und podcasten. Hannelore Elsner hatte ganz sicher ihre nachvollziehbaren privaten und vor allem beruflichen Gründe für ihr Schweigen. Ich aber konnte und wollte einen anderen Weg gehen.
Aber warum hat das so lange gedauert? Das Schreiben darüber oder das Veröffentlichen begann erst fast vier Jahre nach meiner Diagnose (Dezember 2015 – Non-Hodgkin-Lymphom, 4. Stadium) und 15 Monate nach meiner Stammzelltransplantation (Juni 2017). Es brauchte Anlauf und erforderte anscheinend auch eine Art Weckruf aus einer Boutique. Vorher hatte ich trotz – oder vielleicht auch wegen meiner beruflich bedingten Vielschreiberei – überhaupt nicht im Entferntesten darüber nachgedacht, auch nur Tagebuch zu führen oder Geschichten aus dem Stationsalltag aufzuschreiben.
Ich gehörte eher zu der Spezies, die sich in schöne Notizbücher verliebt, versonnen über den Buchdeckel streichelt, dran riecht und fleißig am ersten Tag zehn Seiten füllt, am zweiten fünf und am dritten denkt: heute nicht. Morgen. Und schließlich ein anderes Projekt beginnt, das leise Rufen des wunderschönen Büchleins auf dem Nachttisch am Bett überhört, bis es sehr schnell unter einem Stapel von Romanen und Krimis verschwindet.
Der eigentliche Grund dafür ist aber, dass ich Angst davor hatte, meinen Gedanken und meiner Erkrankung im Schreiben zu begegnen. Es schwarz auf weiß zu haben, was los war. Da war ich einfach feige. Das war mir zu nah. Das, was ich erlebte, konnte ich so besser verdrängen, denn darin war und bin ich Meisterin.
Die Verdrängung war mein Lebensretter, denke ich heute oft. Hätte ich alles notiert, was mir passiert war, welche Untersuchungen und vor allem welche Untersuchungsergebnisse mir um die roten Ohren geflogen sind, in welch atemloser Hilflosigkeit ich mich manchmal befand, hätte ich ganz sicher noch mehr Angst oder größere Panik bekommen. Dass dies NUR eine kurzfristige Belastung dargestellt hätte, habe ich erst jetzt durchdrungen.
Man muss nämlich wissen, ich bin das, was ich liebevoll ein „Placebotierchen“ nenne. Bei mir wirken Tabletten schon, wenn sie auf meiner Zunge liegen oder umgekehrt bekomme ich garantiert immer genau die Nebenwirkungen, die auf dem Beipackzettel stehen. Daher lese ich die auch fast nie. Meine Mutter würde sagen: Nella war schon immer fantasiebegabt.
Stell dir doch nur mal vor, ich hätte das Wort Therapieversagen in meinem Tagebuch niedergeschrieben – wenn ich es denn endlich mal ordentlich geführt hätte. Oder die Absage für die Aufnahme in die für mich damals überlebenswichtige Studie. Oder das erneute Fehlschlagen einer weiteren Chemotherapie Ende 2016. Ich hätte das damals nicht verkraftet. Inzwischen weiß ich: Wenn dir die Worte fehlen, schreib es auf. Das Schreiben kann Wunden heilen. Vielleicht, wenn mir jemand davon erzählt hätte.
Hätte ich einen Beinbruch gehabt oder so etwas ähnliches, hätte ich die Auszeit im Krankenbett vermutlich genossen und vielleicht auch lustige Situationen betextet – beschrieben, wie dusselig ich war, dass mir das passieren konnte, aber nicht bei dieser Diagnose. Das war ja nun mal kein Unfall.
Für mich und meine Familie waren die ersten 17 Monate Dauerstress auf höchstem Niveau. Erst mal medizinisch-inhaltlich: Wer weiß schon, was hinter dem Wort „Raumforderung“ und der „Blut-Hirn-Schranke“ steckt, das Kürzel ZNS bedeutet und was Checkpoint-Inhibitoren machen oder wie hoch das Stresspotenzial bei vermeintlich harmlosen Knochenmarkpunktionen ist und was das PET-CT von der PET-Flasche unterscheidet?
Dann zwischenmenschlich: Wem begegnest du im Krankenzimmer, auf den Klinikfluren und den Untersuchungen? Was machen deine Angehörigen, deine Kinder, deine Liebsten durch?
Schließlich formell betrachtet diese Behörden-Dinge: Was ist eine Transportverordnung genau, wie ist das mit der Zusatzkostenbefreiung, wie sage ich es meinem Arbeitgeber und wann bin ich ausgesteuert?
Nach kurzer Pause kam regelmäßig, fast schon zuverlässig, die nächste Hiobsbotschaft und keine Heilung in Sicht. Ein Off-Label-Use mit einer Immuntherapie brachte die unerwartete Wende. Bis dahin war ich palliativ. Jetzt hieß es: „Wir können wieder über Heilung sprechen, Frau Rausch.“ Die nachfolgende (Fremd-)Stammzelltransplantation erreichte genau das.
Seit Mitte 2017 bin ich krebsfrei. Oder, wie es in der Fachsprache heißt, ein Krebsbefund ist mit derzeitigen Methoden nicht nachweisbar.
Wie meine Reise mit dem Schreiben über Krebs weiterging, könnt ihr hier nächste Woche im zweiten Teil lesen.
Mehr von der Autorin gibt es hier: Das Zellenkarussell.
Bildquelle: arash payam, unsplash