Ich sitze im RTW mit einem 9-monatigen Säugling mit Verbrennungen am ganzen Körper. Ich telefoniere mich von Klinik zu Klinik, doch niemand will das Baby aufnehmen. Warum sind Verbrennungen so schwer zu behandeln?
Eine einsame Fliege zieht träge ihre Runden durch das Halbdunkel. Ich liege auf dem Sofa der Rettungswache und zähle die Stunden bis zum Schichtwechsel. Der Notarztdienst war bisher eher unspektakulär – ein Herzinfarkt, der keiner war, zwei Verlegungsfahrten, eine leichte allergische Reaktion. Ich gleite in den Halbschlaf, das Kreischen des Melders bricht in meine Träume. Kindernotfall – Säugling. Ich bin sofort hellwach.
Auf der Fahrt gehe ich im Kopf alle Maximalkatastrophen durch: Reanimation, Fremdkörperaspiration, Polytrauma … Es ist eine Verbrennung. Der 9 Monate alte Säugling hat am Kabel vom Wasserkocher gezogen, der kochend heiße Inhalt ergoss sich auf das kleine Wesen.
Das Kind schreit wie am Spieß, die Mutter ist in Schockstarre. Gekühlt hat sie aber, ich überschlage die verbrannte Fläche mit der 9er-Regel: Brust, beide Arme, Hals, ein Oberschenkel – deutlich über 20 %. Meine Gedanken rasen: Analgesie, Flüssigkeitssubstitution, Spezialklinik, ARDS … Von Venen keine Spur. Ich gebe dem Kind ein Paracetamolzäpfchen, mache einen Sättigungsclip ans Ohr. Wir eilen zum RTW und schnallen den MaxiCosi auf die Trage. „Melde uns im Verbrennungszentrum an.“ Der Rettungsassistent zückt das Telefon. Ich entscheide mich für „Load and Go“.
„Der Arzt hat Rückfragen“. Ich blicke kurz in die angsterfüllten Augen der Mutter und nehme das Handy, während wir langsam mit Blaulicht aus der Einfahrt rollen.
„Hallo, wieviel Prozent? Über 20? Kein Problem. Wie alt ist das Kind? Achso, 1 Jahr, das geht leider nicht. Da müssen Sie die Kinderklinik fragen.“
Nächster Versuch. „1 Jahr? Ja, Sie können direkt in den pädiatrischen Schockraum. Wieviel Prozent sind etwa verbrannt? Oh fast 30? Das machen wir nicht, der muss ins Verbrennungszentrum.“
„Im Ernst? Die haben mich gerade an Sie verwiesen!“
„Tut mir leid, versuchen Sie mal das Kreiskrankenhaus.“
Ich ahne in welche Richtung das läuft und bemerke aus dem Augenwinkel, dass das Schreien in ein leises Jammern übergegangen ist. Kein gutes Zeichen.
Dritter Versuch: „Über 20 %? Mmh schwierig, aber OK. Ach, 1 Jahr? Sowas nehmen wir erst ab 4 Jahren, sorry.“
„Wohin fahren wir?“ fragt der Rettungsassistent.
„Warte kurz.“
Mein Herz rast. Das Wimmern des Kinds wird leiser, mir läuft ein Schauer über den Rücken. Ich spiele erneut die Optionen durch: Jetzt doch intraossärer Zugang? Ketanest® nasal? Was wenn das Kind dann intubationspflichtig wird? Die Augen der Mutter blicken mich tief und dunkel an.
„Innenstadt, in die Uniklinik, schnell.“
Ich versuche, Zuversicht in meine Stimme zu legen. Diesmal frage ich gar nicht: „Notarzt 1/83-1, wir sind auf dem Weg zu Ihnen, schwerstverbrannter Säugling, ich brauche einen Schockraum. In etwa 15 Minuten.“ Es werden die längsten meines Lebens.
Mit einem Schwerstverbrannten auf dem Weg zur Klinik – jede Minute zählt. Credit: _docjay
Es gibt nicht viele Notfälle in der Dermatologie, aber die haben es in sich. Verbrennungen können durch Flammen, heiße Flüssigkeiten, (UV-)Strahlung aber auch Strom ausgelöst werden. Säuren und Laugen führen ebenfalls zu Gewebsschädigungen, die Verbrennungen ähneln.
Für die Prognose sind sowohl Ausmaß als auch der Schweregrad entscheidend. Zunächst einmal unterscheidet man vier Schweregrade, je nachdem welche Hautschichten betroffen sind:
Schematische Übersicht über die Verbrennungsgrade 1–3. Credit: Wikipedia
Zur Abschätzung der verbrannten Körperoberfläche kann man entweder die Handflächen-Regel (eine Handfläche des Patienten inklusive Finger = 1 % Körperoberfläche) oder die sogenannte 9er-Regel nach dem schottischen Chirurgen Wallace nutzen: Kopf und Hals entsprechen 9 %, ein Arm 9 %, die Vorderseite eines Beins jeweils 9 % und so weiter.
Bei Kindern sind die Prozentzahlen durch andere Proportionen und den überdurchschnittlich großen Kopf anders verteilt. Lebensbedrohlich wird es bei Erwachsenen ab 15 %, bei Kindern ab 10 %.
Was ist das Problem? Zunächst einmal ist es der Schaden am Organ Haut, der ab dem 3. Grad irreversibel ist und nur durch Transplantation zu ersetzen ist. Die akute Gefahr liegt aber woanders: Die Barrierefunktion der Haut ist schwer geschädigt bis zerstört. Es kommt zu einem massiven Verlust von Flüssigkeit, der unbehandelt zügig zum Volumenmangel-Schock führt. Gleichzeitig verliert man Plasmabestandteile wie Albumin. Die verbrannte Haut bildet eine riesige Wundfläche, über die Bakterien und andere Erreger eindringen und zu schweren Infektionen bis zur Sepsis führen können. Zuletzt setzt die massive Gewebsschädigung eine verhängnisvolle Kaskade aus Entzündungsprozessen in Gang, die zu Sekundärschäden wie Nierenversagen, disseminierter intravasaler Koagulation und ARDS führen – das ganze nennt man Verbrennungskrankheit.
Was kann man zur Erstversorgung tun? Tatsächlich ist die kurzfristige lokale Kühlung nur im Rahmen der ersten Hilfe vor allem zur Analgesie akzeptabel, sie soll von medizinischem Fachpersonal explizit nicht durchgeführt werden. Das Risiko einer Hypothermie ist viel grösser als man denkt und verschlechtert massiv die Prognose, insbesondere bei Kindern. Die intravenöse Analgesie ist enorm wichtig, bei weniger als 15 % Verbrennungsfläche haben sich Opiate bewährt, bei über 15 % auch Ketanest®.
Essentiell ist die Flüssigkeitssubstitution. Hier ist Zeit ein entscheidender Faktor – es gilt die Regel „the golden hour of shock“. Bei Erwachsenen werden pragmatisch 1.000 ml kristalloide Lösung (vorzugsweise RingerAcetat) in den ersten 2 Stunden empfohlen, bei Kindern sollte man differenziert nach Gewicht und Verbrennungsfläche substituieren (z. B. Parkland-Formal nach Baxter). Auch hier gilt nicht „viel hilft viel“, da es durch die verbrennungsbedingten Eiweißverluste sonst zu Überinfusion und Ödemen kommt. Die Zugänge legt man logischerweise nicht in verbrannte Hautgebiete, alternativ kann man auch intraossär infundieren.
Die Versorgung von Brandverletzten ist hochkomplex und erfolgt nicht ohne Grund in wenigen spezialisierten Zentren. Patienten mit Verbrennungen 2. Grades über 10 % Körperoberfläche, jeglichen Verbrennungen 3. Grades sowie Verbrennungen an Händen, Gesicht oder Genitalien gehören immer in ein Zentrum. Auch Inhalationstraumata und Verbrennungen durch Blitzschlag oder Chemikalien sollte man dort vorstellen – im Zweifelsfall anfragen. Dort schließt sich dann eine komplexe und oft wochenlange Therapie an, die von chirurgischen Debridements, differenzierter Schock- und antiinfektiver Therapie über plastische Rekonstruktionen bis hin zur Psychotherapie reicht.
Mein kleiner Patient hat übrigens ohne bleibende Schäden überlebt.
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