LONG READ | Die Wissenschaftlerin Hannelore Ehrenreich führte Tierversuche ohne Genehmigung durch. Wie es dazu kam und welche Konsequenzen sie nun tragen muss, lest ihr hier.
Für Hannelore Ehrenreich schien es wie ein Routineantrag, der erfahrungsgemäß genehmigt werden würde. Im April 2022 reichte Sie beim Niedersächsischen Landesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (LAVES) einen Tierversuchsantrag ein. Ihr Fehler: Sie begann gleichzeitig schon mit der Züchtung der Mäuse. Frühere Anträge wurden innerhalb weniger Wochen oder Monate bewilligt – warum sollte sich das ändern?
Das LAVES hatte diesmal aber Fragen zum Antrag und so verzögerte sich die Genehmigung. Wo Ehrenreich anfangs mit 6 Wochen rechnete verstrichen Monate. Die Mäuse waren allerdings schon da. Was sollte sie also tun?
Die Tiere zu töten und die Züchtung nach Antragsgenehmigung zu wiederholen würde Zeit, Geld und Leben kosten. In Paragraf 1 des Tierschutzgesetzes heißt es: „Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen.“ Also führte Arbeitsgruppe Ehrenreich ihre Versuche durch – ohne vorliegende Genehmigung. Am 17. Januar 2023 teilte Ehrenreich dem LAVES schließlich mit, dass die Weiterführung ihres im April 2022 gestellten Tierversuchsantrags nicht mehr zielführend sei und zog den Antrag zurück.
Die nicht genehmigten Versuche vielen im Juni 2023 aber einer Mitarbeiterin am Max-Planck-Institut für Multidisziplinäre Naturwissenschaften, an dem Ehrenreich tätig war, auf. Die Versuche wurden daraufhin vom MPI-NAT vorsorglich untersagt. Auch das LAVES untersagte die Weiterführung der Versuche. Außerdem informierte es die Staatsanwaltschaft, denn wegen der fehlenden Genehmigung bestand Verdacht auf eine Straftat.
Das staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren gegen Ehrenreich endete am 01. September 2023 gegen Zahlung einer Auflage von 15.000 Euro gemäß §153a StPOEs – das wird meist bei Bagatelldelikten angewandt. Ein Verstoß gegen Paragraf 8 des Tierschutzgesetzes ist unstrittig, aber die Schuld von Ehrenreich wurde als gering eingestuft. Für die Staatsanwaltschaft und das LAVES war die Sache damit geklärt – aber da war ja noch das MPI-NAT. Das nahm den Verstoß gegen das Tierschutzgesetz nicht auf die leichte Schulter. Nach einem Votum des Direktorenkollegiums folge am 11. Juli 2023 die fristlose Kündigung Ehrenreichs.
Wegen einer Verschwiegenheitsklausel darf Ehrenreich selbst nicht mehr über die Gründe der Kündigung sprechen. Im Interview erzählte sie DocCheck aber, wie sich die Konsequenzen der Kündigung auf ihre immer noch laufende und zukünftige Arbeit auswirken.
„Man hat mir meinen Laptop weggenommen, Schlüssel, Telefon und Handy. Man hat mir den Zugang zu meinem Office verunmöglicht. […] Ich habe bisher nicht einmal das Institut betreten können. Nach der außergerichtlichen Einigung sandte mir das MPI-NAT einen Brief zu, in dem es ein absolutes Hausverbot erteilte“, erzählt sie. Das erschwert ihr die Weiterarbeit an ihren laufenden Projekten enorm. Nach Ehrenreichs Kündigung wurde ein anderer Professor des MPI-NAT für die Betreuung ihrer Doktoranden eingesetzt. Dennoch ist Ehrenreich – als eine der wenigen fachkundige Expertin auf ihrem Gebiet – weiterhin bemüht, für ihre Studenten da zu sein. „Ich betreue meine 21 PhD Studenten, Medizindoktoranden und jungen Postdocs in Restaurants oder bei mir zu Hause, weil ich natürlich niemanden fallen lasse, sondern möchte, dass alle ihre Arbeiten machen können.”
In ihrer Forschung der letzten 30 Jahre hat sie sich vor allem mit Erythropoetin (EPO) beschäftigt. Sie und ihr Team konnten zeigen, dass EPO die Kognition verbessert und die Erholung von schweren Erkrankungen wie beispielsweise Multipler Sklerose oder Schlaganfällen fördert. Nachdem Hypoxie der wichtigste Faktor ist, der endogenes EPO stimuliert, ist sie bereits früh in die Hypoxieforschung eingestiegen. In Tierversuchen konnte sie dann nachweisen, dass man durch Hypoxie ähnliche Effekte erzielt, wie mit EPO – nämlich über die endogene EPO-Induktion. Eine in Göttingen eingerichtet Hypoxiekammer ermöglichte es Ehrenreich, dann dieses Projekt vom Mausmodel auf den Menschen zu übertragen.
Im Juni 2023 starteten sie eine offene Studie, um die Sicherheit und Wirksamkeit des Hypoxietrainings an menschlichen Probanden zu testen. Dabei verbrachten die Teilnehmer drei Wochen lang täglich dreieinhalb Stunden in der Hypoxiekammer mit reduziertem Sauerstoff. Anfangs lag der Sauerstoffgehalt bei etwa 16 % – vergleichbar mit der Zugspitze – und wurde dann auf 12 % gesenkt. Diese Prozedur wurde eng überwacht und mit Hilfe von viel Technik ausgewertet. „Das Ganze war sehr aufwendig einzurichten, nicht nur die Hypoxiekammer selbst, sondern auch die Trainingsgeräte – drei Kognitions-Arbeitsplätze, ein Laufband und ein Ergometer – alles Medizingeräte. Und die sind alle so installiert, dass man praktisch alle Tätigkeiten der einzelnen Probanden online genau verfolgen kann.“
Die Teilnehmer zeigten aber tatsächlich sowohl kognitive als auch körperliche Verbesserungen. Besonders bei Patienten mit Depression konnten dabei Fortschritte verzeichnet werden. Diese Studie war zwar nicht verblindet, aber die Wissenschaftlerin erklärt: „Es gibt Hinweise darauf, dass bei Major Depression die Expression von Hypoxie-relevanten Genen im Gehirn reduziert ist. Das heißt, wir haben wahrscheinlich für die Behandlung der Depression eine ganz gezielte Therapie, weshalb auch die ersten 6 Patienten so extrem gut ansprachen.“ Das nächste Ziel sei es, eine doppelblinde Studie zu starten, um die Ergebnisse weiter zu verifizieren. Denn die bisherigen Ergebnisse sind vielversprechend und könnten neue Therapieansätze für schwer behandelbare Erkrankungen bieten.
Aber da gibt es ein Problem: Das Hausverbot. Das nehme ihr nicht nur den Zutritt zur Hypoxiekammer, sondern auch den Kontakt zu den Probanden, denn ihr wurden Mobiltelefon, E-Mail, PC und Schlüssel abgenommen. „Die Patienten hatten plötzlich keine Möglichkeit mehr, mich zu kontaktieren. Es sind ca. 7.000 Personen in unserer Datenbank, darunter auch rezidivierend suizidale Menschen“, fügt sie hinzu.
Seit dem ersten Tag ihrer Kündigung arbeitet Ehrenreich weiter, allerdings nicht im Labor, sondern von Zuhause aus. In dieser Zeit habe sie ungefähr fünf Publikationen eingereicht, von denen seien drei angenommen oder erschienen. Mittlerweile hat sie eine Anstellung als Gruppenleiterin am Zentralinstitut für seelische Gesundheit in Mannheim gefunden und so die Möglichkeit, ihre Drittmittel weiterhin abzurufen. Denn ihre Hypoxiekammer kann Ehrenreich wegen des Hausverbots nicht mehr besuchen. Das MPI-NAT hatte wohl den Transfer der Hypoxiekammer nach Mannheim angeboten, das würde aber sehr viel kosten. Ehrenreich fragte bei Experten nach – sie schätzten den nötigen finanziellen Aufwand auf mindestens eine viertel Million. „Das ist eine vollkommen unsinnige Verschwendung von Fördergeldern, […] wo die Kammer ja in Göttingen perfekt ausgestattet ist“, so die Wissenschaftlerin.
Das alles wegen des Tierversuchantrages. Doch besonders in Ehrenreichs Fachbereich, der translationalen Forschung, nehmen Tierversuche eine große Rolle ein. „Das heißt, ich gehe vom Tier zum Menschen und zurück – und ziele darauf ab, Therapien für nicht heilbare Krankheiten zu entwickeln. Zu dieser biomedizinisch essentiellen Forschung braucht man Tierversuche.“ Die seien in ihrer Hypoxieforschung zwar vergleichsweise „harmlos“, weil sie hauptsächlich Tiere nach einer 12 %igen Sauerstoffexposition beobachte, doch nehmen – auch wegen der darauf folgenden Beobachtung von Kognition, Fitness sowie Motorik und Sensorik – viel Zeit in Anspruch. Ein möglicher Grund für ihre Eile bei der Antragsstellung? „Sie können sich als Wissenschaftler eigentlich nicht leisten, dass Sie ein Jahr und mehr auf Antragsbewilligung von Tierversuchen warten. Das ist aber heute gang und gäbe und politisch gewollt. Als Forscher müssen Sie außerdem gewisse Timelines einhalten, auch für ihre Geldgeber, was praktisch nicht mehr möglich ist“, so die Wissenschaftlerin.
Ehrenreich ist der Meinung, dass die Antragstellung und Genehmigungen für translationale Forschung dringend erleichtert werden müsse, da lange Wartezeiten auch den Forschungsstandort Deutschland gefährden würden. Dass derzeit ca. 14–18 Monate oder mehr bis zur Genehmigung vergehen, werfe Deutschland aus der internationalen Forschung, meint die Wissenschaftlerin. Ihrer Meinung nach sollten Behörden angewiesen werden, Genehmigungen innerhalb von vier Monaten zu erteilen. Aus persönlicher Erfahrung mit Tierversuchsanträgen berichtet sie: „[Das] sind bis zur Bewilligung eines Antrags teilweise Hunderte von Seiten in zahllosen Schreiben mit Fragen und Antworten. Und jedes Mal, wenn Sie ein Schreiben mit Fragen von der Behörde bekommen, gilt wieder der Zeitpunkt 0. Das heißt, die gesetzlich vorgeschriebenen zwei Monate bis zur Genehmigung werden jedes Mal wieder neu gerechnet, und das Ganze zieht sich zum Teil über ein Jahr oder länger hin, bis die Genehmigung da ist.“
Vom MPI-NAT hätte Ehrenreich erwartet, dass es sie schütze. Denn eine Forschungseinrichtungen solle ihre Forscher unterstützen und vor bürokratischen Hürden schützen, sagt sie. „Man hätte eigentlich erwartet, dass sie [das MPI-NAT] sich schützend vor mich stellen und sagen, ich habe ethisch korrekt gehandelt. ‚Sie ist dem Genehmigungsparagrafen nicht gefolgt, aber sie ist dem Tierschutzparagrafen 1 gefolgt: Du sollst nicht sinnlos töten. Und das ist in der ethischen Hierarchie der wichtigere Paragraf.‘ Das hätte ich von dem Institut erwartet.“
Für Hannelore Ehrenreich geht es als nächstes nach Mannheim, wo man sich auf die Zusammenarbeit mit ihr freue. „Wir kennen sie aus langer Zusammenarbeit als hoch ethische und in jeder Hinsicht tadellose Kollegin, sie ist ein leuchtendes Beispiel dafür, wie man Forschung machen sollte“, sagt Andreas Meyer-Lindenberg, Direktor des Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim, in einem Interview. Ehrenreich kämpft weiter um ihre Projekte, denn ihre Doktoranden sind weiterhin in Göttingen. Sie selbst würde sich heutzutage nicht mehr auf die schnelle Antragsbewilligung verlassen, bevor sie mit Tierzüchtungen beginnt.
https://www.sueddeutsche.de/gesundheit/max-planck-institut-goettingen-neurowissenschaftlerin-fristlose-kuendigung-hannelore-ehrenreich-1.6532163?reduced=true
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