Der Arzt von heute soll Patienten in Entscheidungen mit einbeziehen. Gar nicht so einfach, die Zeit ist knapp. Aber es lohnt sich für alle – so klappt’s.
Für Eilige gibt’s am Ende des Artikels eine kurze Zusammenfassung.
„Hätte ich das vorher gewusst, dann hätte ich mich anders entschieden.“ Wenn ein Patient rückblickend seine Behandlung so beurteilt, hat die Arzt-Patienten-Kommunikation versagt. Zwar kann niemand den Verlauf einer Therapie mit Sicherheit vorhersehen, aber man kann ihn mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit abschätzen – und man kann darüber sprechen. Bei dem Gespräch soll es nicht nur um die vom Arzt präferierte Option, sondern um alle ärztlich vertretbaren Möglichkeiten gehen, und nicht nur um die erwarteten Verbesserungen, sondern auch um die möglichen Nebenwirkungen, Komplikationen und Begleiterscheinungen.
Die Zeiten, in denen Ärzte im Alleingang entscheiden und von ihren Patienten Ergebenheit und Gottvertrauen erwarten, sollten längst vorbei sein. Paternalistisches Gehabe gilt als ebenso überholt wie der sogenannte Informed Consent, bei dem Patienten ausführlich informiert, aber dann mit ihrer Entscheidung allein gelassen werden. State of the art ist das Konzept der gemeinsamen Entscheidungsfindung, des „Shared Decision Making“, kurz SDM.
Das Konzept besagt, dass sich Arzt und Patient auf Augenhöhe begegnen, der eine als Experte für die Medizin, der andere als Experte für seine Lebensumstände und persönlichen Präferenzen. Ausnahmen gibt es natürlich: Nicht angebracht ist Shared Decision Making bei einem Notfall, wenn die Patienten nicht ansprechbar sind, oder wenn sie sich explizit nicht an der Entscheidung beteiligen wollen.
Eigentlich ist SDM ein alter Hut, denn das Patientenrechtegesetz schreibt schon seit 2013 vor, dass Patienten aufgeklärt und einbezogen werden müssen. Doch der Alltag in Praxis und Klinik sieht mitunter – nach eigener Erfahrung meist – anders aus: Da sitzt man eine Stunde lang tatenlos im Wartebereich einer Klinik, um dann nach knapper Einweisung in die bevorstehende OP einen mehrseitigen Einwilligungsbogen zur Unterschrift vorgelegt zu bekommen. Darin soll man dem Arzt eine umfassende Aufklärung über die OP und eine erschöpfende Beantwortung aller offenen Fragen attestieren. Hallo? Wieso hat man den Bogen nicht schon draußen im Wartebereich bekommen? Dann wüsste man wenigstens, welche Fragen man noch hätte stellen wollen. Oder beim Zahnarzt: Da liegt man schon auf dem Behandlungsstuhl, und nur auf Nachfrage wird man von der hinter einem sitzenden, vermummten Ärztin darüber informiert, welche Zähne sie eigentlich ziehen möchte.
Dabei sind nicht nur die Patienten zufriedener, wenn sie in Entscheidungen einbezogen werden, auch Ärzte und Kassen profitieren davon. Wenn Patienten besser wissen, was auf sie zukommen kann, und wenn sie sich gut informiert und aktiv für eine bestimmte Option entschieden haben, werden sie von negativen Auswirkungen weniger überrascht sein und sie werden Medikamenteneinnahme und Nachsorge zuverlässiger einhalten. Sie werden auch weniger nachfragen und sich weniger über ein suboptimales Ergebnis beschweren.
„Durch Shared Decision Making können wir Kommunikation verbessern, die Patientensicherheit erhöhen und damit auch vermeidbare Ausgaben im Krankenhaus reduzieren“, sagt Hardy Müller, Experte der Techniker Krankenkasse. Und Bundesärztekammer-Vizepräsidentin Ellen Lundershausen bestätigt in einer Pressemitteilung vom Februar dieses Jahres, dass eine gemeinsame Entscheidungsfindung von Ärzten und Patienten zu einer besseren Versorgung beitragen würde, wie aktuelle Forschungsprojekte zeigten.
Mit den „aktuellen Forschungsergebnissen“ spielt Lundershausen vor allem auf das Projekt Making SDM a Reality an. In diesem vier Jahre dauernden und 14 Millionen Euro teuren Innovationsfondsprojekt ließ sich das Universitätsklinikum Schleswig-Holstein in Kiel auf SDM trimmen. Das Projektteam schulte die Ärzte des Klinikums, erstellte 80 evidenzbasierte Entscheidungshilfen, bildete Pflegekräfte weiter und motivierte Patienten zur aktiven Teilhabe. Parallel evaluierten externe Wissenschaftler den Verlauf des Projekts und die Effekte der Maßnahmen.
Am Ende, so Projektleiter Friedemann Geiger, zeigte sich nicht nur, dass im Klinikum mehr SDM praktiziert wurde, sondern auch, dass es weniger Notfalleinweisungen gab und die Versorgung günstiger wurde. Die Ergebnisse der Evaluation überzeugten auch den Gemeinsamen Bundesausschuss, der das „Kieler Model“ im vergangenen Jahr für die Übernahme in die Regelversorgung empfahl.
Momentan wird SDM in Kiel vom Kompetenzzentrum Shared Decision Making mit Geldern des Klinikums sowie beteiligter Krankenkassen weiter betrieben. In absehbarer Zeit sollen Kliniken eine extra Zuwendung von den Kassen bekommen, sofern sie SDM nach dem Kieler Modell etablieren und ein entsprechendes Zertifikat erwerben. 200 Kliniken stünden bereits auf der Warteliste, so Geiger.
Die 6 Schritte eines strukturierten Arzt-Patienten-Gesprächs nach dem Kieler Modell:
Dass das SDM-Projekt an einem Klinikum und nicht im ambulanten Bereich angesiedelt ist, hat eher praktische Gründe: Im abgeschlossenen Klinik-Biotop ließen sich die Maßnahmen vollständiger umsetzen und die Effekte besser messen. Klar ist jedoch, dass SDM in den Praxen mindestens genauso wichtig ist. Dort werden permanent Entscheidungen getroffen, die mitunter auch die Weichen für eine Klinikbehandlung stellen. So entscheidet der niedergelassene Arzt beispielsweise, ob er einen Patienten mit vergrößerter Schilddrüse zu den Radiologen oder den Chirurgen schickt – wo er dann meistens auch bleibt.
Ein Projekt, das SDM in der hausärztlichen Praxis mit Entscheidungshilfen ganz konkret unterstützt, nennt sich arriba. Der Name ist ein Akronym für die Schritte eines strukturierten Patientengesprächs. Das Besondere an arriba: Die Entscheidungshilfen werden den Patienten nicht für zuhause in die Hand gedrückt, sondern in der Praxis gemeinsam genutzt. Die Entscheidungshilfen von arriba, genannt Module, sind auch keine Informationen auf Papier, sondern eine interaktive Software. Zugriff auf die inzwischen 13 Module hat, wer Mitglied der arriba-Genossenschaft ist. Regulär kostet das einmalig 350 € und jährlich 128,40 €.
Im ersten Modul, das arriba vor über zehn Jahren erstellte und damit eine Pioniertat vollbrachte, ging es um das Thema kardiovaskuläre Prävention. Ein hinterlegter Risikorechner ermittelt dabei die persönliche Wahrscheinlichkeit, einen Herzinfarkt oder Schlaganfall zu bekommen. Der zweigeteilte Bildschirm zeigt dabei auf der linken Seite wahlweise den Anamnesebogen oder die Behandlung. Auf der rechten Seite illustrieren Balken oder ein Feld mit zehn mal zehn Smileys, wie sich verschiedene Behandlungsoptionen auswirken.
So kann beispielsweise ein 61-jähriger Raucher mit einem Blutdruck von 155 mmHg und einem Gesamtcholesterin von 295 mg/dl auf einen Blick sehen, dass ein Drittel aller Männer mit seinen Werten in den nächsten zehn Jahren einen Herzinfarkt oder Schlaganfall bekommen wird. Der Durchschnitt unter Gleichaltrigen liegt nur bei einem Zehntel. Und der Arzt kann dem Patienten unmittelbar den Erfolg von Maßnahmen aufzeigen: Ein Verzicht auf Zigaretten und eine Umstellung der Ernährung würde das Risiko so weit reduzieren wie die Einnahme von Statinen und Blutdrucksenkern. Wenn von den vorher 34 roten Traurig-Smileys allein durch Rauch-Stopp ein Dutzend zu orangen Lach-Smileys umswitcht, ist das ein echter Aha-Effekt.
Während die arriba-Webseite über die Module hinaus für eine gute Gesprächsführung lediglich Tipps gibt, werden die Ärzte am Klinikum in Kiel intensiv geschult. Punkt eins der Schulung ist ein Online-Training, in dem interaktiv die sechs Schritte eines strukturierten Arzt-Patienten-Gesprächs vermittelt werden. Videos machen die Gesprächssituation sehr anschaulich.
Anschließend nehmen die Ärzte ein eigenes Patientengespräch auf, das dann eine Trainerin des Kompetenzzentrums analysiert. Besprochen werden solche Videos in meist Zweier- bis Vierer-Gruppen mit Ärzten verschiedener Kliniken. Nach einiger Zeit nehmen die Ärzte ein zweites Gespräch auf und bekommen erneut Feedback. Weil Ärzte in der Regel recht ehrgeizig sind, sagt Trainerin Constanze Stolz-Klingenberg, klappt das zweite Video deutlich leichter und das Gespräch wird besser.
Während das Ärzte-Training am Anfang des Projekts nicht nur auf Gegenliebe stieß, – weil es neu war, Zeit und Mühe kostete, und bei Manchen die Einsicht in den Nutzen fehlte – gehört es inzwischen ganz automatisch zum Einstellungsprozedere. Aus dem teilnehmen müssen ist längst ein dürfen geworden, sagt Stolz-Klingenberg. Und sie hat auch den Eindruck, dass die Klinik im Werben um neue Mitarbeiter ihr SDM-Training als Pluspunkt in die Waagschale wirft.
Zusammenfassung für Eilige
Constanze Stolz-Klingenberg fasst die wichtigsten Erkenntnisse aus inzwischen über 1.000 Ärztetrainings so zusammen:
Bildquelle: Nick Fewings, unsplash