Ich knie hier in einer Wohnung auf einem Kurzflorteppich und habe keine Wahl: Um Herrn Mehringers Leben zu retten, muss ich eine Maßnahme durchführen, die ich als Notfallsanitäter eigentlich nicht ohne Notarzt durchführen kann. Aber wo bleibt der nur?
Nicht nur, weil das nichtärztliche Personal im Rettungsdienst bestens ausgebildet ist, nein: Notfallsanitäter dürfen eigenverantwortlich heilkundliche Maßnahmen durchführen, wenn das Setting passt.
Dazu kommt, dass sie sich auch noch jederzeit kompetente Hilfe in Person eines Notarztes an die Einsatzstelle rufen können. Jenes notärztliche Personal kann schließlich sämtliche Maßnahmen durchführen, die der Notfallsanitäter nicht beherrscht. In einer Weiterbildung hat es Handlungsfähigkeit in eskalativen Einsatzsituationen erworben. Zumindest dachte ich das eine lange Zeit – bis ich als Notfallsanitäter eines Tages mit dem Rücken zur Wand stand – und mir niemand half.
22 Uhr im September irgendeinen Jahres. Das Gesicht des Mannes trug die Farbe eines nebligen Morgens. Seine Augen blickten an mir und meiner Kollegin Marisa vorbei, nachdem wir ihn auf den Rücken gedreht hatten. Die Ehefrau war gleichzeitig die Mitteilerin – sie redete und überschlug sich fast dabei: Dass ihr Mann gegen 18 Uhr beim Abendessen seinen rechten Arm überhaupt nicht mehr bewegen konnte und dass er sich dann verbal und massiv gegen den Notruf gewehrt und sie diesen dann unterlassen hatte. Und später klagte er über Brustschmerzen und hörte auf einen Schlag zu sprechen auf. Er rutschte von der Couch und blieb auf dem Bauch liegen, das Gesicht halb in den Teppich gedrückt.
„Herr Mehringer? Können Sie mich hören?“ Keine Reaktion. Erst als ich ihn am Brustbein rieb, drehte sich sein Kopf mit der Geschwindigkeit eines schmelzenden Gletschers in meine Richtung. Ich sah zu Marisa, die dem Mann schon die Blutdruckmanschette des EKGs anlegte und ein Pulsoxy an den Finger klippte. Das Gerät surrte, die Manschette blies sich auf.
Wir handelten wie nach Lehrbuch und gingen die 3S-Regel durch: Die Szene schien sicher. Das AVPU-Schema war klar. Es bestand eine potenzielle vitale Bedrohung: Der Mann reagierte nur auf Schmerzreiz.
Keine relevante Blutung, freie Atemwege. Kein AB-Problem. Sättigung nur bei 89 % SpO2. Marisa riss die Sauerstoffmaske auf und setzte sie Herrn Mehringer auf das Gesicht, der sich nicht dagegen wehrte. Die Sättigung verbesserte sich kurze Zeit später. Darmgeräusche schienen auch normal, der Bauch ohne Abwehrspannung. Blutdruck bei 98 zu 70. Mögliches C-Problem? Frequenz bei 181: definitiv ein C-Problem. Marisa zog die Defi-Patches heraus und klebte sie Herrn Mehringer auf. Wenn der Mann in einer lebensbedrohlichen Herzrhythmusstörung steckte, sollten wir vorbereitet sein. Notarzt? Ja, auf jeden Fall. Die ILS bestätigte mir die Nachforderung unmittelbar. Die Ehefrau bekam unsere Eile mit. Sie tat mir sehr leid, denn sie hatte zurecht Angst um ihren Mann.
Wir hatten es mit einem tachykarden Vorhofflimmern bei schneller Überleitung zu tun. Mir kam einen kurzen Moment lang in den Sinn, dass dieses Vorhofflimmern auch für den Schlaganfall um 18 Uhr verantwortlich gewesen sein könnte, wobei mir nicht klar war, wieso Herr Mehringer dann nicht sofort, sondern erst vier Stunden später kollabiert war. Marisa sah zu mir, dann wieder auf den rosafarbenen Ausdruck, dann wieder zu mir. Aber was nun? Der Patient erfüllte mehrere Instabilitätskriterien für eine sofortige Kardioversion: die Ischämie, der Thoraxschmerz, die Vigilanzminderung und die Synkope.
Aber kein Problem – in einer Minute würde sicher der Notarzt zur Tür hineinspazieren und den Gesundheitszustand des Patienten ins richtige Lot rücken. Hinsichtlich einer Kardioversion konnte ich in dieser Situation schließlich nicht davon sprechen, Routine zu besitzen. Ich war zwar einige Male dabei, aber hatte etwas derartiges bisher eigenverantwortlich noch nie durchgeführt. Und genau deshalb gibt es für uns Notfallsanitäter schließlich die Möglichkeit, die notfallmedizinische Expertise eines Notarztes an die Einsatzstelle zu holen. Blöderweise kam aber niemand. Wir konnten nicht länger abwarten: Der Patient befand sich in akuter Lebensgefahr.
Ich sah meine Kollegin an und war zunächst ratlos, was ich dem Mann zur Analgesie geben sollte. Fentanyl? Bei bis zu 2000 Volt und 30 Ampere an Strom, die durch den Thorax feuern, hätte das vermutlich trotz seiner geminderten Vigilanz nicht ausgereicht. Also etwas mehr, und es dann noch mit Midazolam kombinieren? Hätte aber dann höchstwahrscheinlich zur Atemdepression geführt. Und letztendlich gab es noch die Schlaganfall-Problematik: Ich weiß aus zahlreichen vergangenen Einsätzen, dass Neurologen es nicht so gerne mögen, wenn man Notfallpatienten vom Midazolam zugeprallt in die Notaufnahme bringt. Ketanest? Steigert den myokardialen Sauerstoffbedarf und sollte bei kardialer Beteiligung eher zurückhaltend verwendet werden. Ich entschied mich also, sehr wenig Fentanyl und dafür noch einen Schluck Propofol zu nehmen – zwei Medikamente, von denen ich in meinem Nebenjob in der Anästhesie sowieso jede Woche reichlich in irgendwelche Zugänge spritze. Ich hatte mich für null-null-fünf Fenta und 50 Milligramm Propofol entschieden. Der Blutdruck war sicher grenzwertig niedrig, aber noch tolerabel. Auch sah es für mich nicht nach einer kardiogenen Schocksituation aus. Die Vorteile der beiden Medikamente liegen auf der Hand: Der Patient schläft nur für wenige Minuten. Schmerz und Bewusstsein sind ausgeschaltet, die Eigenatmung erhalten, es kommt im Nachgang zu keiner neurologischen Beeinträchtigung. Aber wo zur Hölle bleibt der Notarzt?
Ein Jahr nach diesem Einsatz werde ich übrigens wegen einer unterlassenen Notarztnachforderung Ärger mit den beiden ÄLRD unseres Rettungsdienstbereiches haben. Ich werde zu einem Gespräch in den Rettungszweckverband vorgeladen werden. Dann werde ich allein vor einem Tribunal sitzen, das mich mit dem Verlust meiner Arbeitsfähigkeit und dem Entzug meiner 2c-Delegation überfahren will. Man wird mir abverlangen, auf jede nicht delegierte invasive Maßnahme einen Notarzt nachzufordern. Ich werde mich dann an diesen Einsatz und an die groteske Forderung der ÄLRD erinnern, und wie mir einfach niemand zur Hilfe kam.
Und nun kniete ich hier in einer Wohnung irgendwo am Land auf einem orientalischen Kurzflorteppich und hatte keine Wahl: Ich war im Begriff, ein Propofol-Fentanyl-Gemisch in die alten Venen eines Mannes zu spritzen, über dessen Vorgeschichte ich fast nichts wusste. Einen kurzen Moment lang betete ich, dass das hier jetzt einfach gut gehen möge. Dann stellte ich mir auch kurz vor, was wenn nicht. Früher spürte ich schon immer mal die kalte Mauer im Rücken und war dann auch gezwungen, tief in meinen Hut zu greifen, um die Situation wieder kontrollierbar zu machen. Aber eine Kurznarkose ging doch über eine gewisse Grenze hinaus.
Okay, es wirkt. Der Mann schnurchelt vor sich hin. „Sync“ am LP 15 aktivieren. 120 Joule, hochladen. Marisas und mein Blick treffen sich. Sie stimmt durch Kopfnicken zu. „Schock in drei, zwei, eins …“ Kurzes Zögern und der Druck auf die beblitzte Taste. Klack – das Relais im Gerät gibt die Energie frei. Der Körper zuckt, als erschrecke sich sein Besitzer vor einem zerplatzenden Luftballon. Dann vergingen einige Sekunden, in denen ich die Frau aus dem Augenwinkel betrachtete, wie sie in sich zusammengesunken auf der heidelbeerblauen Couch saß und das gemeinsame Leben mit ihrem Mann in der Zielgeraden sah. Aber der Blick auf das EKG zeigte die Poesie des Überlebens.
27 Minuten nach meiner Notarztnachforderung klingelte es. Die Ehefrau öffnete. Notarzt und Rettungssanitäter schlenderten zur Tür hinein, Ampullarium und Schreibkladde unter den Armen. „Na, was habt ihr?“ Das Gesicht des Chirurgen fror ein: „Ach du Scheiße, ihr habt tatsächlich kardiovertiert.“ Seine Augen streiften den EKG-Monitor und den rosafarbenen Ausdruck, dann Herrn Mehringers Gesicht, und blieben dann an mir kleben. Der Notarzt formulierte auch, er hätte uns in dieser Situation gar nicht helfen können, weil er noch nie kardiovertiert habe. Ich entgegnete letztendlich, dass wir es auch so hinbekamen und wir uns nun aber auch noch um den Stroke kümmern müssten und es schon gut wäre, wenn er als Notarzt in die Klinik begleite. Was ich in diesem Moment dachte, behielt ich für mich.
Bevor jetzt jemand von euch auf die Idee kommt, diesen Einsatz als unglücklichen Zufall abzutun: Seitdem zähle ich elf Kardioversionen, davon zehn eigenverantwortlich. Beim letzten Einsatz dieser Art wartete ich 40 Minuten auf das NEF – in einer Millionen-Großstadt, in der es von Notärzten nur so wimmeln müsste. Es war ein Augenblick der Klarheit, in dem mir wieder einmal die Fehlbarkeit unseres Rettungsdienst-Systems ins Gesicht geschlagen wurde. Die Theorie der Notarztnachforderung und die Praxis dahinter klaffen weit auseinander. Auch die Verfügbarkeit und Besetzung von Notarztstandorten zeigt erhebliche Defizite auf. Algorithmen lassen sich nicht so ohne Weiteres anwenden. Wir werden immer wieder dazu gezwungen, zu improvisieren und unkonventionelle Lösungsansätze zu liefern. In Extremsituationen vertrauen wir dann auf Intuition und Erfahrung, und genau darin liegt jedoch auch der Reiz an diesem Job: das Beste zu erhoffen, aber für das Schlimmste gerüstet zu sein und Grenzen zu überschreiten, wann immer dies notwendig ist. Echte Kompetenz wird nicht nur durch Wissen, sondern vor allem durch das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, definiert. Den Unterschied machen der Mensch und seine Bereitschaft, schwierige Entscheidungen zu treffen.
Doch wie sieht das optimale Rettungsdienstsystem aus? Es besteht in meinem Wunschtraum aus bestens ausgebildeten Notfallsanitätern und auch aus kameraüberwachtem Simulationstraining. Denkbar wäre noch Simulationstraining in einer virtuellen Umgebung, so wie es Sim-X ermöglicht, und in der man Szenarien trainieren kann, die sich in der Realität nicht so ohne weiteres realisieren lassen. Die Abfragequalität in einer ILS müsste dringend überarbeitet werden, damit der Rettungsdienst unterm Strich nicht jeden Husten und Schnupfen abarbeiten muss. Dazu bräuchten wir ein neues Notarztsystem. An diesem System dürften nur noch Notfallmediziner teilnehmen, die eine Weiterbildung zum „Facharzt für Notfallmedizin“ absolviert haben, der aber auch erst aus dem Boden gestampft werden müsste. Nur dieser deckt alle präklinisch denkbaren Worst-Case-Szenarien ab und verhindert, dass ein Chirurg an einer Einsatzstelle plötzlich eine antiarrhythmische Therapie durchführen muss. Dann müsste noch die Alarmierungsschwelle für NEF deutlich heraufgesetzt werden, denn ganz ehrlich: Möchtest du als Notarzt morgens um halb drei noch aufstehen, um dem Patienten ein Schmerzmittel oder einen Blutdrucksenker zu verabreichen? Ich denke, die Zeiten sind vorbei.
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