Vor knapp 10 Jahren kam die These auf, dass das Gehirn vor allem nachts durch das „glymphatische System“ von Schadstoffen gereinigt wird. Eine neue Studie scheint damit nun aufzuräumen – doch sie ist heftig umstritten.
Für Eilige gibt’s am Ende des Artikels eine kurze Zusammenfassung.
Zu wenig Schlaf ist ungesund. Chronischer Schlafmangel erhöht das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs und Demenz. Im Allgemeinen wird eine Schlafdauer von sieben bis acht Stunden empfohlen. Wer regelmäßig weniger schläft, riskiert früher zu sterben. Auch wenn es viele behaupten, gibt es nur sehr wenige Menschen, die ohne negative gesundheitliche Folgen mit weniger Schlaf auskommen.
Das Bedürfnis zu schlafen, ist auch in der Tierwelt weit verbreitet, von den Insekten bis zu den Säugetieren kommt keine Tierart ohne Ruhephasen aus. Dabei ist das Schlafbedürfnis eigentlich ein großer evolutionärer Nachteil. Im Schlaf ist man einen großen Teil des Tages Feinden und anderen Gefahren der Natur schutzlos ausgeliefert. Außerdem kann diese Zeit nicht für wichtige Dinge wie Nahrungssuche oder Fortpflanzung genutzt werden.
Stellt man sich eine Tierart vor, die diesen Nachteil nicht hat, hätte sie sich im Laufe der Evolution durchsetzen müssen. Der Schlaf muss dem Organismus also immense Vorteile bringen, um diese Nachteile auszugleichen. Die Frage, warum wir schlafen müssen, ist noch nicht vollständig geklärt. Wahrscheinlich erfüllt der Schlaf eine Vielzahl von lebenswichtigen Funktionen. So finden im Schlaf körperliche Reparaturprozesse statt, Gedächtnisinhalte werden gefestigt und emotionale Ereignisse verarbeitet.
Eine weitere Funktion des Schlafes, die erst vor gut 10 Jahren erstmals beschrieben wurde, ist die Reinigung des Gehirns von Abfallstoffen. Als Müllabfuhr dient dabei das sogenannte glymphatische System. Diese Wortschöpfung entstand aus der Kombination von Gliazellen und lymphatischem System. In diesem System wird der Liquor aus den Ventrikeln durch das Gehirn gespült und nimmt dabei verschiedene Schadstoffe auf. Beladen mit den Schadstoffen fließt die Flüssigkeit über die Lymphgefäße der Hirnhäute und des Halses ab und gelangt schließlich in den Blutkreislauf. Hier werden die Schadstoffe dann größtenteils über die Nieren ausgeschieden. Bisherige Untersuchungen deuten darauf hin, dass dieses System vor allem im Schlaf aktiv ist. Im Wachzustand nimmt das Gehirn keinen Liquor auf, während im Schlaf das Hirnparenchym vom Liquor durchspült und somit gereinigt wird. Funktionsweise des hypothetischen glymphatischen Systems: 1. Zufluss von Liquor (CSF) durch die periarteriellen Räume. 2. Liquor fließt durch die Aquaporine in das Hirnparenchym, wo sich Liqour und interstitiellen Flüssigkeit (ISF) vermischen. Mit dem Fluss durch das Hirnparenchym werden lösliche Abfallstoffe ausgeschwemmt. 3. Abfallstoffe werden über den perivenösen Liquor-ISF-Efflux aus dem Gehirn abgeleitet. Credit: DocCheck, nach Szlufik et al
Eine neue Studie stellt diese Ergebnisse jedoch in Frage. Dabei wurden Mäusen markierte Moleküle direkt ins Gehirn injiziert und ihre Bewegungen in verschiedenen Zuständen gemessen. Dabei zeigte sich kein Unterschied zwischen Wachzustand, Schlaf und Narkose. Im Schlaf wurden sogar weniger Moleküle aus dem Gehirn abtransportiert als im Wachzustand. Dieses Ergebnis steht in direktem Widerspruch zu bisherigen Erkenntnissen – und sorgte für Diskussionen.
In der aktuellen Studie wurden die markierten Moleküle direkt in das Gehirn der Mäuse injiziert, während sie in früheren Studien meist in den Liquor gespritzt wurden. Die direkte Verabreichung in das Hirnparenchym ist wahrscheinlich eine zuverlässigere Methode, schließlich will man in erster Linie herausfinden, wie Stoffe aus dem Gehirn abtransportiert werden und nicht, wie der Liquor durch das Gehirn fließt.
Dennoch wurde die Studie wegen ihrer Methoden auch heftig kritisiert. So bezeichnete Maiken Nedergaard, Professorin für Neurologie an der Universität Rochester, deren Studien zum Konzept des glymphatischen Systems geführt hatten, die Studie als „irreführend“ und „extrem schlecht gemacht“. Die Injektion von Flüssigkeit direkt in das Hirngewebe erhöhe den intrakraniellen Druck und könne dadurch das glymphatische System beeinträchtigen, das in der Studie möglicherweise blockiert worden sei. Außerdem seien die Tiere, die im Schlaf untersucht wurden, zuvor über einen längeren Zeitraum künstlich wach gehalten worden. Dadurch habe der Schlaf dieser Tiere nicht dem natürlichen Schlaf entsprochen, was die Ergebnisse zusätzlich verfälscht haben könnte.
So überraschend die Ergebnisse der Studie sind, so sehr wird sie wegen ihrer neuen Methodik kritisiert. Da sie, wie auch frühere Studien, an Mäusen durchgeführt wurde, ist die Übertragbarkeit auf den Menschen unsicher. Auch wenn das glymphatische System eine schöne und anschauliche Erklärung für die Funktion des Schlafes ist, ist seine Funktionsweise nicht so genau verstanden, wie bisher angenommen.
Das ändert nichts an den positiven Auswirkungen des Schlafes auf die Gesundheit. Nur scheinen wir nicht so genau zu wissen, auf welchen biologischen Mechanismen sie beruhen. Der Schlaf bleibt ein Rätsel. Weitere Forschungen werden notwendig sein, um die genaue Rolle des glymphatischen Systems zu bestimmen und zu verstehen, wie das Gehirn sich selbst reinigt.
Therapeutische Relevanz könnte das Thema vor allem im Bereich neurodegenerativer Erkrankungen wie der Alzheimer-Demenz erlangen. Die Anhäufung von fehlgefaltetem β-Amyloid, das sich bei der Alzheimer-Krankheit zu Plaques zusammenlagert, wurde mit einem gestörten glymphatischen System in Verbindung gebracht. Ein funktionierendes glymphatisches System könnte das toxische β-Amyloid aus dem Gehirn entfernen, bevor es Schaden anrichten kann.
Auch andere toxische Proteine, die zur Krankheitsentstehung bei Alzheimer und anderen degenerativen Erkrankungen beitragen, könnten auf diese Weise entfernt werden. Da die Mechanismen, die diesen Erkrankungen zugrunde liegen, komplex sind und nicht, wie oft vereinfacht dargestellt, nur auf der Anhäufung eines einzigen toxischen Proteins beruhen, wäre die unselektive Reinigungsfunktion des glymphatischen Systems ein attraktiver therapeutischer Ansatz. Um dieses System therapeutisch aktivieren zu können, muss seine Funktion genauer verstanden – und vielleicht sogar die Frage nach seiner Existenz geklärt werden.
Kurze Zusammenfassung für Eilige:
Quellen:
Miao A et al. Brain clearance is reduced during sleep and anesthesia. Nat Neurosci, 2024. doi: 10.1038/s41593-024-01638-y
Mestre H et al. The Brain's Glymphatic System: Current Controversies. Trends Neurosci, 2020. doi: 10.1016/j.tins.2020.04.003
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