Jeder Fachbereich hat wohlgehegte Überlieferungen, die sich – dem wissenschaftlichen Stand zum Trotz – bis heute halten. Hier kommen die 5 größten ophtalmologischen Mythen.
Myopie. Hochrechnungen gehen davon aus, dass derzeit rund ein Drittel der Weltbevölkerung von Kurzsichtigkeit betroffen ist – bis 2050 wird sich der Anteil auf 50 % erhöhen – 10% davon gar mit hoher Myopie (weniger als -6 Dioptrien). Einen entscheidenden Anteil an einer solchen „Pandemie der Myopie“ hat dabei die ostasiatische Bevölkerung, die bis dahin mit 65 %, in Ländern wie Japan oder Taiwan 80 bis 95 %, überdurchschnittlich stark betroffen ist.
Doch auch in Europa fehlt zunehmend die Weitsicht – und das nicht nur bei der betroffenen Bevölkerung. Auch in der Ärzteschaft halten sich, obwohl die Studienlage zu Myopie verhältnismäßig üppig ausfällt, laut einer aktuellen Studie bis heute noch einige Denkweisen, die eigentlich der Vergangenheit angehören sollten.
In Sachen Mythos nennen die Studienautoren, dass starke Ausbreitung und hohe Myopie an sich nur die asiatische Bevölkerung beträfen. Eine entsprechend genetisch bedingte Prävalenz, weiß man heute, gibt es aber nicht – jedenfalls nicht mit Blick auf eine Differenz von asiatischer und europäischer Bevölkerung. Und doch: Für Deutschland zeigen Studien eine unveränderte Myopieprävalenz und auch Dr. Klaus Rüther, Augenarzt und Leiter des Ressorts Strabologie und Neuroophthalmologie des Berufsverbandes der Augenärzte Deutschlands (BVA), kann die Angst vor einer zu starken und schnellen Ausbreitung nicht teilen: „Von einer Pandemie der Myopie liest man häufig. Ich habe zuletzt allerdings die aktuellen Zahlen für Deutschland und Europa gesehen und diese deuten darauf hin, dass es hier keine pandemischen Ausmaße angenommen hat. Für Deutschland würde ich das entsprechend nicht unterschreiben.“
Kinder, deren Augen sich in der Schulzeit verschlechtern, durchlaufen damit nur einen „normalen“ Prozess, in dem sich die Augen dem neuen Lebensstil anpassen – heißt es heute noch in vielen Praxen. Doch die Schulmyopie als quasi-evolutionäre Gegebenheit hinzunehmen sei falsch, kommen Forscher zum Schluss. So entwickle sich bei 54 % von 7 bis 8 Jährigen mit Myopie in Folge auch eine hohe Myopie.
„Ja, es gibt den Mythos, dass Schulmyopie ungefährlich ist. Woher und wie sich dieser entwickelt hat, kann ich aber auch nicht nachvollziehen. Sicher ist aber, dass Kurzsichtigkeit, die vor dem Schulalter entsteht, oftmals wesentlich schwerwiegender ist – was aber gleichzeitig nicht heißt, dass sich Schulmyopie nicht auch stark ausprägen kann. In beiden Fällen muss man gute Vorsorge betreiben und in regelmäßigen Abständen eine Kontrolle der Kurzsichtigkeit durchführen lassen“, erklärt Rüther.
Myopien schreite nur voran so lange man sich im Wachstum befindet – in der Regel also bis in das junge Erwachsenenleben. Während Studienergebnisse tatsächlich darauf hindeuteten, dass das Gros an Betroffenen eine Stabilisierung erfährt, kommt es bei etwa 18 % der jungen Erwachsenen zu einer signifikanten Myopieprogression – insbesondere Frauen und Menschen chinesischer Abstammung. Laut Studie ist auch bei Erwachsenen wichtig, ein Management samt Überwachung der Myopie zu betreiben, besonders wenn eine Progression der Achsenlänge beobachtet wird.
In vielen deutschen Augenarztpraxen herrscht auch heute noch die Meinung vor, dass man mit Unterkorrektur ein Voranschreiten der Kurzsichtigkeit beheben könne. Aktuelle Studien zeigen: Das Gegenteil ist der Fall. So führe eine Unterkorrektur mit Einstärkegläsern eher dazu, dass dadurch das Achsenlängenwachstum stimuliert wird und die Myopie voranschreitet
„Die Unterkorrektur ist leider noch ein weit verbreiteter Mythos – auch bei den ärztlichen Kollegen. Ich hatte vor kurzem eine Fortbildung, in der die Leiterin tatsächlich noch zur Unterkorrektur geraten hatte. Das ist nicht mehr gültig, da man heute weiß, dass die Entwicklung der Kurzsichtigkeit auch mit der Qualität des Bildes auf der Netzhaut zu tun hat. Wenn man nun jemanden unterkorrigiert und die Person dauerhaft in der Ferne unscharf und schlecht sieht, dann triggert dies die Myopie und fördert diese eher“, bestätigt Rüther.
Kinder mit beginnender Myopie sollten nach Möglichkeit umgehend behandelt werden. Sollte Zeit im Freien nicht ausreichen, müssten Atropin-Augentropfen, Kontaktlinsen zur Myopiekontrolle oder harte Kontaktlinsen zum Einsatz kommen. Während die „Kontrollkontaktlinsen“ die Sehschwächen an den Rändern kaum ausgleichen soll die harte Variante die Hornhaut formen und abflachen. Die Kritik: Es gibt hierzu noch keine Langzeiterfahrungen.
Abseits von vermeintlichen Entwicklungen, Dispositionen, Hilfen und Vorgehensweisen können sich Augenärzte jedoch auch auf eine Reihe von Risikofaktoren und bewährten Präventionsmaßnahmen verlassen. Zunächst sei die genetische Disposition genannt – hier gehören Personen mit asiatisch ethnischer Zugehörigkeit sowie weibliche Personen zu den Risikogruppen. Insgesamt haben jedoch alle Menschen eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, kurzsichtig zu werden, wenn sie kurzsichtige Elternteile haben. Doch auch Kinder mit guten ophtomalogisch Grundvoraussetzungen sind früh Gefahren ausgesetzt: Schulaufgaben, Lesen, Smartphone, Laptop sind Nahdistanzbelastungen, die das Längen-Wachstum des Auges stimulieren. „Lange“ Augen (mit mehr als 26 Millimetern) sind zumeist entsprechend kurzsichtige Augen.
Unter Augenärzten gibt es eine Reihe von prägnanten Alterszahlen, die sich in erster Linie am Wachstum der Menschen orientieren – und entsprechend im speziellen Myopie-Management individuell überprüft werden. So liegen die altersnormalen Schwellenwerte beispielsweise für 6-Jährige bei +0,75 Dioptrien, bei 10-Jährigen bei +0,25 Dioptrien. Überschreiten Kinder diese Werte – werden sie also vor dem 10. Lebensjahr kurz- statt leicht weitsichtig, deutet dies auf eine hohe Myopie im Erwachsenenalter hin.
Auch die Bedeutung von Tageslicht und Aufenthalt im Freien kann für die Prävention nicht unterschätzt werden, wie Rüther untermauert: „Die beste Vorsorgemaßnahme die man treffen kann, ist, Tageslicht abzubekommen. Man sagt, dass Kinder pro Woche rund 14 Tageslichtstunden erhalten müssten für eine gesunde Augenentwicklung – unerheblich dabei ob es an einem Tag 14 Stunden sind oder man sich diese aufteilt. Auch sollten sie nach ca. 20 Minuten Lesezeit für 20 Sekunden einen Fokuswechsel vornehmen und in die Ferne schauen. Daneben wird in Deutschland aktuell viel mit Atropin-Tropfen entgegengewirkt. Diese wirken zwar laut einigen asiatischer Studien auch, allerdings kann sich nach Absetzen ein Rebound-Effekt einstellen und die Betroffenen stehen wieder da, wo sie vorher standen.“
Bildquelle: Monika Borys, Unsplash