Viele Patienten treibt die Angst um, nicht tief genug narkotisiert zu sein – und während einer OP aufzuwachen. Aber auch eine zu tiefe Narkose kann problematisch sein. Auf was müssen Ärzte achten?
Für Eilige gibt’s am Ende des Artikels eine kurze Zusammenfassung.
Eine Narkose bei einer Operation dient dazu, das Bewusstsein, die Schmerzempfindung und die Bewegungsfähigkeit zeitweise auszuschalten. Sie soll ausreichend tief sein, um zu vermeiden, dass ein Patient während des Eingriffs Dinge wahrnimmt. Andererseits sollte eine zu tiefe Narkose vermieden werden, die mit unerwünschten Nachwirkungen wie einem postoperativen Delir oder postoperativen kognitiven Störungen einhergehen kann. Diese sind vor allem bei älteren Menschen relativ häufig: So wurde bei Patienten ab 60 Jahren bei 23–26 % ein postoperatives Delir beobachtet.
Allerdings reagieren Menschen individuell sehr unterschiedlich auf die Narkosemedikamente. Ärzte erleben hier immer wieder Überraschungen. Wovon hängt es also ab, wie eine Narkose wirkt? Und welche Faktoren sollten berücksichtigt werden, um eine zu tiefe, aber auch eine zu leichte Narkose zu vermeiden?
„Zur Frage, welche individuellen Faktoren die Reaktion auf eine Narkose beeinflussen, gibt es bisher keine konkreten Studien“, sagt Prof. Berthold Drexler. Er ist 1. Sprecher des Wissenschaftlichen Arbeitskreises Neuroanästhesie der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI) und geschäftsführender Oberarzt an der Universitätsklinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin des Universitätsklinikums Tübingen. „Allerdings liefern Studien eine Reihe von Hinweisen, welche Faktoren hier eine Rolle spielen könnten. Um diese Faktoren genauer zu verstehen, ist weitere Forschung notwendig.“
Laut Drexler gehören zu diesen Faktoren:
Ziel ist in jedem Fall, negative Nachwirkungen einer zu tiefen Narkose wie ein Delir oder postoperative Gedächtnis- oder Konzentrationsstörungen zu vermeiden. Eine aktualisierte Leitlinie zum postoperativen Delir bei Erwachsenen der European Society of Anaesthesiology and Intensive Care (ESAIC) und die „Save Brain Initiative“ geben Empfehlungen, was vor, während und nach einer Narkose zu beachten ist, um negative Nachwirkungen zu vermeiden.
„Sinnvoll ist, vor einer Operation Risikofaktoren für postoperative Probleme zu erfassen“, erläutert Drexler. „Eine wichtige Rolle spielt dabei die Erhebung eines ‚Frailty Scores‘. Weiterhin sollte erfasst werden, ob während oder nach früheren Operationen Komplikationen wie eine zu tiefe Narkose oder ein Delir aufgetreten sind.“ Als Risikofaktor gilt das „Triple Low“: So haben Studien gezeigt, dass Patienten eine höhere Empfindlichkeit auf Narkosemittel und eine erhöhte Mortalität haben, wenn sie während der Narkose einen niedrigen Blutdruck, eine niedrige Anästhetikakonzentration (minimale alveoläre Konzentration, MAC-Wert) und einen niedrigen BIS-Wert aufweisen. Beim Bispektralen Index (BISTM) wird die Narkosetiefe anhand von EEG-Kennwerten erfasst und mit einem Wert von 0 bis 100 wiedergegeben. „Diese Patienten haben ein erhöhtes Risiko für eine zu tiefe Narkose und brauchen vermutlich weniger Narkosemittel“, so der Anästhesist.
Wichtig ist laut ESAIC-Leitlinie, den präoperativen Zustand der Patienten zu optimieren. Dazu gehört, Risikofaktoren für ein postoperatives Delir wie Mangelernährung, Dehydratation oder Anämie zu beseitigen, Stress abzubauen und einen guten Schlaf zu fördern. „Als Auslöser für ein postoperatives Delir spielen neben der Narkose jedoch auch Vorerkrankungen, Gewebeverletzungen und Entzündungsprozesse infolge der Operation eine Rolle“, betont Drexler. „All das ist schwer voneinander zu trennen.“
Während der Narkose sollte die Narkosetiefe mittels EEG-Monitoring überwacht werden. Dies wird an immer mehr Kliniken in Deutschland routinemäßig eingesetzt. „Kommerzielle EEG-Monitore wie zum Beispiel der BISTM-Monitor liefern jedoch nur eine Zahl von eins bis 100 und haben ihre Stärken und Schwächen“, sagt Drexler. Besser geeignet seien neuere Monitore, die ein farbiges Frequenzspektrum zeigen und so mehr Informationen zur Beurteilung der Narkosetiefe liefern. „Wichtig ist, auf bestimmte EEG-Muster zu achten – insbesondere auf eine Burst Suppression, die auf eine zu tiefe Narkose hinweist“, erläutert der Experte. „Studien zeigen, dass sie mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit für ein Delir und postoperative kognitive Störungen einhergeht.“ Die Power im Alpha-Band des EEG sollte dagegen während der Narkose hoch sein.
„Allerdings sollten aus meiner Sicht immer mehrere Faktoren erfasst werden, um die Narkosetiefe möglichst genau zu bestimmen“, betont Drexler. „Dazu könnte auch ein Monitoring der Schmerzempfindung beitragen, das eine genauere Dosierung von Opioiden ermöglichen könnte.“ Dazu gibt es jedoch erst wenige Studien.
Wenn du mehr über das Delir und Delir-Management erfahren willst, klick oben auf das Video!Nach einer Operation sollte bei Risikopatienten regelmäßig ein Delir-Screening durchgeführt werden, etwa mit der „Confusion Assessment Method“ (CAM). „Denn neben einer agitierten gibt es auch eine ruhige Form des Delirs, die möglicherweise kaum auffällt“, erklärt Drexler. „Diese Patienten liegen ruhig im Bett, sind aber völlig desorientiert.“ Um dem „Abdriften“ in ein Delir entgegenzuwirken, sollte auf einfache Dinge geachtet werden: Etwa, dass die Patienten ihre Brille, ihre Hörhilfe und eine Uhr parat haben, um sich orientieren zu können und dass sie einen festen Tag-Nacht-Rhythmus einhalten. Weiterhin sollten sie nach der Operation frühzeitig mobilisiert werden und zu einer normalen Ernährung zurückkehren.
Auf der anderen Seite kann es durch zu wenig Narkosemittel zum Erleben von Wachheit während einer Operation kommen. Das bedeutet, dass die Patienten ihre Umwelt teilweise oder vollständig wahrnehmen oder auf Aufforderungen reagieren. Wachheit während einer Operation ist selten: Sie tritt bei etwa 0,1–0,2 % der Erwachsenen und bei etwa 1 % der Kinder und Hochrisikopatienten auf. „Das Erleben von Wachheit kann für die Betroffenen jedoch traumatisch sein“, berichtet Drexler. „Und in wenigen Fällen entwickelt sich daraus eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS).“
Ein erhöhtes Risiko für intraoperative Wachheit besteht laut Drexler:
Aufmerksamkeit des Anästhesie-Personals für mögliches Erwachen und ein EEG-Monitoring der Narkosetiefe können dazu beitragen, Wachheitsphasen weitgehend zu vermeiden. „Heute ist das Risiko, während einer Narkose Wachheit zu erleben, deutlich geringer als noch vor einigen Jahrzehnten“, betont der Anästhesist. „Zum einen ist bei Ärztinnen und Ärzten das Bewusstsein, dass so etwas vorkommen kann, heute größer. Zudem gibt es modernere Medikamente wie Propofol. Und durch das EEG-Monitoring kann die Tiefe der Bewusstlosigkeit genauer erfasst und bei zu geringer Tiefe sofort gegengesteuert werden.“
Um herauszufinden, ob Wachheitsepisoden aufgetreten sind, sollten Ärzte nach der Operation gezielt danach fragen – etwa mit dem Kurzinterview von Brice. „Patienten berichten so etwas meist nicht von selbst“, sagt Drexler. „Wachheit während einer Operation kann jedoch dazu führen, dass die Betroffenen medizinische Hilfe nicht mehr so in Anspruch nehmen wie es nötig wäre.“ Weiterhin gilt es, diejenigen Patienten aufzuspüren, die durch das Erleben von Wachheit längere Zeit belastet sind – und sie in eine Beratung oder Therapie zu vermitteln.
Kurze Zusammenfassung für Eilige:
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