Eigentlich hatte ich die Patientin nach ihrer Influenza-Infektion entlassen. Jetzt ist sie zurück in der Notaufnahme mit Schmerzen, Schwäche und einem Krampfanfall. Irgendwas stimmt hier ganz und gar nicht – aber was?
Irgendwas stimmt hier nicht. Ich bin in der Notaufnahme und erneut am Bett der jungen Frau, ihre Schwester hatte uns voller Angst hinzugerufen. Die Patientin zittert am ganzen Körper, ich frage, was ihr fehlt. Vor 15 Minuten antwortete sie noch in makellosem Englisch, jetzt kommt die Antwort auf einmal verwaschen auf Maleolum (sie kommt aus Kerala in Südindien).
„Sie hat am ganzen Körper Schmerzen“ übersetzt ihre Schwester. Ich setze gerade zur Nachfrage an als die Patientin anfängt, mit Armen und Beinen zu zucken.
„Krampfanfall!“
Die Sättigung bleibt unbeeindruckt bei 99 %, die Augen sind geschlossen, auf meine Ansprache hin kneift sie sie noch fester zusammen. Ist das echt oder psychogen? Ich halte schon die Spritze mit Lorazepam in der Hand, als der Spuk urplötzlich vorbei ist. Kein Zungenbiss, die Patientin ist wach.
„Wir fahren sofort ins CT!“
Aber von vorne: Die 22-jährige Patientin kam vor sechs Tagen in die Notaufnahme, 40 °C Fieber, Gliederschmerzen, Übelkeit, extreme Abgeschlagenheit – Influenza B. Im Labor zeigte sich passend eine Linksverschiebung und Lymphopenie, ansonsten nichts. Das Röntgen war unspektakulär, minimale wolkige bis flächige Verdichtungen des rechten Oberlappens.
Röntgenbild des Brustkorbs (posterior-anterior) A) wolkige Verdichtung des rechten Oberlappens. Röntgen-Thorax – Leichte Infiltrate rechts apikal bei Influenza – oder? Credit: Jakob Schröder
Der Verlauf war für eine junge Patientin typisch, wenn auch etwas schwerer als üblich. Sie lag drei Tage nur im Bett, meinte mehrfach vor Schmerzen nicht aufstehen zu können. Wir therapierten für fünf Tage mit Oseltamivir und Paracetamol, worunter es langsam besser wurde – und sprachen gelegentlich darüber, ob sie nicht doch ein bisschen zu viel leidet. Ich tat ihr Unrecht, wie ich später merken sollte. An Tag fünf war sie wieder unter den Lebenden, saß auf der Bettkannte, frühstückte mit neuer Energie und konnte aufstehen. Die Familie war da, sie bat um Entlassung. Ich hatte nichts dagegen einzuwenden.
Heute Morgen, knapp zwei Tage später, kam sie wieder in die Notaufnahme: Schmerzen am ganzen Körper, vor allem Kopfschmerzen und Nacken-/Rückenschmerzen, ausgeprägte Schwäche. „Sie spricht anders“, berichtet die Schwester.
Das CT nach dem Krampfanfall ist unauffällig, irgendwie habe ich mir das gedacht. Meine Zweifel bleiben, irgendwas stimmt hier nicht. „Wir verlegen Sie jetzt in die Akutneurologie“. Ich rufe den Kollegen an, berichte über den Verlauf, das aktuelle Ereignis in der Notaufnahme (Krampfanfall versus psychogen) und die Vorgeschichte.
Einen Tag später: Ich stöbere in der digitalen Akte von unserem Partnerkrankenhaus und falle fast vom Stuhl. Meningitis! Eine erneute Anamnese brachte neue Informationen: Seit fast einem Monat habe sie Kopfschmerzen und Photophobie, was sich durch Krankengymnastik zwischenzeitlich besserte. Die dortige Liquorpunktion zeigt einen ausgeprägt pathologischen Befund mit Liquorpleozytose (473 Zellen), Eiweiß- und Laktaterhöhung, eine Therapie mit Ampicillin, Ceftriaxon und Aciclovir wird begonnen. Wenige Stunden später kommt die entscheidende Information: PCR auf Mycobacterium-tuberculosis-Komplex im Liquor ist schwach positiv. Eine tuberkulöse Meningitis!
Eine Vierfachtherapie mit Rifampicin, Isoniazid, Pyrazinamid und Ethambutol wird begonnen, zusätzlich Steroide. Alle Kulturen sollten negativ bleiben, die Antibiose wird abgesetzt. Die Kollegen führen ein CT-Thorax durch, die nächste Überraschung: Unsere „wolkige bis flächige Verdichtungen des rechten Oberlappens“ im Röntgen-Thorax stellen sich als ausgedehnte Kaverne da. So viel zur Aussagekraft eines konventionellen Röntgenbilds … Hier sitzt also die Quelle des Ganzen: Eine Lungentuberkulose.
CT-Aufnahme des Brustkorbs (axial, mit Kontrastmittel) A) Kavernöse Raumforderung rechts apikal. Credit: Jakob Schröder
Jetzt geht es Schlag auf Schlag. Im MRT zeigen sich Diffusionsstörungen rechts lateral im Hirnstamm, kleinknotige Veränderungen im Bereich der Pons bzw. des rechten Kleinhirnschenkels mit randständiger Kontrastmittelanreicherung und kleinknotige Kontrastmittelanreicherungen auf dem Tentorium cerebelli: Letztere sind typische Befunde einer Neurotuberkulose, die Veränderungen im Hirnstamm sehen aus wie Infarkte. Der IGRA-Test ist wenig überraschend positiv.
MRT-Bild des Gehirns (T1, koronar mit Kontrastmittel) A) Knotige Veränderungen im Kleinhirnstiel mit marginaler Kontrastmittelanreicherung. Mehrere Herde im Kleinhirn. Credit: Jakob Schröder
Auch klinisch beginnt eine unheilvolle Dynamik: Innerhalb von wenigen Tagen entwickelt die Patientin eine Abducensparese rechts und Hemiparese links, Dysarthrophonie und einen passageren Harnverhalt. Nachdem sich der klinische Befund stabilisiert hat, übernehmen wir die Patientin zurück zu uns in die Infektiologie, engmaschig mitbetreut durch unsere neurologische Abteilung. Wir führen mehrfache Bronchoskopien durch, auch zur Differentialdiagnostik. Ein weiterer/erneuter Keimnachweis gelingt nicht mehr.
Langsam wird klar, wie alles zusammenhängt – dennoch bleiben einige Fragen offen: Meine neurologische Kollegin und ich grübeln über die Symptome: Wie passt der Harnverhalt und die massiven Schmerzen an den Beinen zur cerebralen Tuberkulose? Im MRT-Myelon schließt sich der Kreis: Man sieht entzündliche KM-Anreicherung entlang des Myelons hinweisend auf spinale Radikulo-Meningitis.
MRT-Bild der Wirbelsäule und des Rückenmarks (T1, sagittal mit Kontrastmittel) A) Kontrastmittelanreicherung Nervenwurzeln L4-S1. Credit: Jakob Schröder
Der weitere Verlauf zieht sich. Eine passagere Transaminasenerhöhung über das 5-fache der Norm (nicht selten, aber hier wünscht man sich keine Therapiepause) zwingt uns die antituberkulöse Therapie bis auf Rifampicin und Ethambutol zu stoppen, nach gestaffelter Zugabe von Isoniazid und Pyrazinamid normalisieren sich die Werte. Langsam geht es der Patientin besser, die Steroide werden reduziert, mit täglicher Physiotherapie und Mobilisation sind die Symptome rückläufig. Im Anschluss geht es in die neurologische Frührehabilitation. Vier Monate später wird die Patientin arbeitsfähig entlassen.
Tuberkulose ist eine gefährliche und sehr komplexe Krankheit. Man geht davon aus, dass etwa ein Viertel der Weltbevölkerung latent infiziert ist (LTBI). Jedes Jahr sterben 1,5 Millionen Menschen an Tuberkulose, damit liegt die Krankheit unter den Top 3 der infektionsbedingten Todesursachen. Die Infektion betrifft in etwa ¾ der Fälle die Lunge, ¼ ist extrapulmonal. Was macht sie so kompliziert? Ko-Infektionen vor allem mit HIV (aber auch Influenza!) sind fatal, die Krankheit ist klinisch ein Chamäleon. Es gibt nicht den einen zuverlässigen Test, sondern mehrere Methoden, die man wie Bausteine zusammensetzen muss. Die Neurotuberkulose ist dann einer der gefährlichsten Verlaufsformen, auch mit korrekter Therapie liegt die Mortalität bei fast 30 %. Daran zu denken ist alles, danach sind Liquorpunktion und PCR mit Kultur essenziell, in dem sich (wie hier auch) ein Bild zwischen bakterieller und viraler Meningitis zeigt. Ergänzt wird durch Bildgebung mittels MRT.
Verschiedene Meningitis-Typen und ihr Liquorbefund. Credit: Jakob Schröder
Die Therapie ist die bekannte, aber verlängerte 4-fach-Therapie aus Rifampicin, Isoniazid, Pyrazinamid und Ethambutol über insgesamt 12 Monate (2 Monate 4-fach, dann 10 Monate 2-fach), zusätzlich gibt man Steroide über mehrere Wochen.
Und die Influenza? Es gibt weitaus weniger Studien zur Ko-Infektion mit Influenza als zu der mit HIV, aber es scheint eine ähnlich unheilvolle Allianz zu sein. Im Tiermodell sind schwerere Verläufe beschrieben, beim Menschen gibt es Tendenzen zu schwererer Erkrankung, aber (noch) zu wenig Daten. Pathophysiologisch spielen Interferone eine wichtige Rolle: Interferon-γ ist bei Tuberkulose wichtig zur Granulombildung und damit zur Kontrolle der Krankheit, dieses wird im Rahmen der Influenza-Infektion aber gehemmt.
In unserem Fall lag also eine länger bestehende Lungentuberkulose vor, die durch die recht schwere Influenza-Infektion innerhalb von Tagen zur einer rasch fortschreitenden Neurotuberkulose (zerebral und spinal) führte. Ein seltener dramatischer Fall, der uns noch etwas zeigt: Durch Migration und Klimawandel werden wir auch in Deutschland mit untypischen Erkrankungskonstellationen konfrontiert, die bisher überwiegend in tropischen Ländern auftraten. Durch breite Diagnostik und enge interdisziplinäre Zusammenarbeit – hier Infektiologie, Neurologie und Pneumologie – kann man auch solchen Herausforderungen begegnen und die Patienten im besten Fall heilen.
Bildquelle: Marcelo Cidrack, Unsplash