In Deutschland haben 4 % der Schwangeren jeden Monat einen Alkohol-Rausch. Das kann für ihr Kind schwere Folgen haben. Warum diagnostizieren Ärzte das Fetale Alkoholsyndrom so selten?
Alkohol als unsere Droge Nummer 1 hat einen festen Platz in der Gesellschaft: Man stößt gemeinsam an, gönnt sich ein Feierabendbierchen, trinkt zum Essen einen schönen Wein. Jugendliche bringen sich beim Vorglühen schon vor einer Feier auf Temperatur. Sogar der Vollrausch bekommt ein poetisches Etikett: Dann hat man eben zu tief ins Glas geschaut, oder einen über den Durst getrunken. Eine neue Leitlinie wischt schon mit ihrem ersten Satz jede Beschönigung ganz prosaisch beiseite: „Mütterlicher Alkoholkonsum während der Schwangerschaft führt häufig zu Schäden beim ungeborenen Kind.“
Die fast 400 Seiten starke S3-Leitlinie Fetale Alkoholspektrumstörungen bei Kindern und Jugendlichen unter der Federführung der Gesellschaft für Neuropädiatrie (GNP) richtet sich an Fachärzte, Psychotherapeuten und Psychologen, Hebammen sowie Sozialarbeiter. Zudem möchte sie Physio-, Ergo- und Sprachtherapeuten sowie Allgemeinmediziner informieren. Mitgewirkt haben neben weiteren medizinischen Fachgesellschaften auch der Deutsche Hebammen Verband, zwei Rechtsanwälte, Beobachterinnen des Bundesministeriums für Gesundheit sowie sechs betroffene Kinder.
Die Fetal Alcohol Spectrum Disorders, kurz FASD, sind dauerhafte Gehirnschädigungen des Kindes, verursacht durch den Alkoholkonsum der Schwangeren, die nicht weiß, dass sie schwanger ist oder was Alkohol anrichten kann, oder die eine Schädigung ihres eigenen Kindes billigend in Kauf nimmt.
Die Leitlinie will das Bewusstsein für die Alkoholfolgen stärken und die Aufmerksamkeit erhöhen. Denn: „Die Diagnose FASD wird viel zu selten gestellt, da die professionellen Helfer*innen im Gesundheitssystem Hemmungen haben, einen diesbezüglichen Verdacht auszusprechen, oder zu wenig über das Krankheitsbild informiert sind.“ Dabei ist es wichtig, die Schädigung früh zu erkennen. Dann kann man die Kinder individuell fördern, um ihnen bei der Alltagsbewältigung zu helfen und Komorbiditäten sowie Folgekrankheiten zu verhindern.
Wie häufig Schwangere trinken, ist schwer zu ermitteln. Denn die meisten Erhebungen verlassen sich auf die – unzuverlässigen – Aussagen der Mütter. Eine Befragung in Deutschland ergab, dass 12 % der Schwangeren höchstens einmal im Monat einen Rausch haben, 4 % jeden Monat, und 0,1 % jede Woche – plus Dunkelziffer. Eine weitere erschütternde Erkenntnis: „Binge drinking und hoher Alkoholkonsum während der Schwangerschaft scheint in den letzten Jahren zuzunehmen.“
Eine dänische Erhebung zeigt: Bis zum positiven Schwangerschaftstest kommt exzessives Trinken häufiger bei jüngeren, besser gebildeten Frauen vor, die noch keine Kinder haben, danach eher bei arbeitslosen Frauen mit Kindern und niedrigem sozioökonomischem Status.
Auch die Häufigkeit von FASD kann man nur schätzen, weil aussagekräftige Erhebungen fehlen. Ein grober Wert für Deutschland geht von 2 % der Neugeborenen aus. FASD ist also viel häufiger als Down-Syndrom und Cerebralparese. Viele Faktoren haben einen Einfluss darauf, ob Trinken das Kind dann tatsächlich schädigt: Alkoholmenge, zusätzlicher Drogenkonsum, höheres Alter, Stress, Geburtskomplikationen und andere. Auch die genetische Veranlagung des Kindes scheint eine Rolle zu spielen, da große Mengen alkoholabbauender Enzyme das Kind schützen.
Die Diagnose der FASD ruht auf vier Säulen:
Für die Therapie wird überwiegend auf andere Leitlinien verwiesen, etwa zu Epilepsie, Sprachentwicklungsstörungen und ADHS. Hilfreich sind zudem diverse Trainingsmaßnahmen. Medikamente sollen generell sehr zurückhaltend eingesetzt werden, bei schweren Verhaltensstörungen kann man beispielsweise Neuroleptika erwägen. Eine cholinreiche Ernährung kann hilfreich sein, der Nutzen von Cholin als Nahrungsergänzungsmittel ist unklar, zudem führt Cholin zu einem fischigen Geruch. Ob der Kontakt zu Tieren helfen kann, ist ebenfalls unklar. Von einer transkraniellen Gleichstromsimulation wird abgeraten. Eltern und Bezugspersonen sollen psychoedukative Maßnahmen angeboten werden.
Betroffene Kinder sollen auch Strategien zur Selbstbehauptung lernen. Denn: „Untersuchungen deuten darauf hin, dass Kinder mit FASD besonders häufig Opfer von Misshandlung (inklusive Missbrauch) werden.“
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