Wenn Kinder und Jugendliche gewalttätig werden, ist das mediale Echo groß. Aber wie beurteilt man, ob diese jungen Täter wissen, was sie tun – und zur Verantwortung gezogen werden können?
„Jugendliche prügeln 52-Jährigen zu Tode“ (12.01.2024)
„Mord an 14-Jährigem in Wunstorf: Höchststrafe für Jugendlichen.“ (28.08.2023)
„Drei jugendliche Täter haben am Mittwochabend in Delmenhorst einen 43-jährigen Radfahrer überfallen. Sie konnten flüchten – allerdings ohne Beute zu machen. Die Polizei sucht nun nach Zeugen oder Hinweisgebern.“ (19.04.2024)
Solche und ähnliche Schlagzeilen lösen in der Regel landesweite Bestürzung aus. Das Thema „Jugend- und Kindergewalt“ beschäftigt sehr unterschiedliche Fachrichtungen. Auch zunehmende Straftaten durch juristische Kinder (d. h. unter 14 Jahren), wie z. B. der Fall von der durch zwei minderjährige Mädchen getöteten 12-jährigen Luise aus Freudenberg, erzeugen ein nicht zu vernachlässigendes mediales Echo.
Die polizeiliche Kriminalstatistik stellt fest, dass die Zahl tatverdächtiger Jugendlicher (zwischen 14 bis unter 18 Jahre) 2023 mit 207.149 Tatverdächtigen gestiegen sei (2022: 189.149). Ihr Anteil an allen Tatverdächtigen betrage 9,2 Prozent. Jugendgewalt spiele sich meist unter Gleichaltrigen ab.
In diesem Beitrag soll es um die Beurteilung der Verantwortungsreife bzw. strafrechtlichen Verantwortungsreife von Jugendlichen (14–18. Lebensjahr) gehen. Kinder unter 14 Jahren sind nicht strafmündig. Für sie gelten primär familienrechtliche und erzieherische Maßnahmen. Erst nach Prüfung der im § 3 JGG genannten Reifeaspekte, kann juristisch von „Schuldfähigkeit, verminderter oder aufgehobener Schuldfähigkeit“ gesprochen werden.
Laut § 3 JGG wird explizit der positive Nachweis der Schuldfähigkeit eines Jugendlichen verlangt. Die Schuldfähigkeit wird bei jugendlichen Tätern noch weiter definiert und in unterschiedlichen Konstrukten aufgeschlüsselt. Es geht spezifischer um die Frage der strafrechtlichen Verantwortlichkeit oder Verantwortungsreife/Strafreife.
Bei allen gutachterlichen Fragestellungen mit Schwerpunkt Beurteilung der Strafreife geht es um drei Grundfragen:
Entwicklungspsychologisch wäre auch die Frage bei jüngeren Kindern bzw. bei juristischen Kindern oder bei Kindern und Jugendlichen mit Entwicklungsverzögerungen zu stellen, ob sie zwischen Spiel und Realität oder Vorstellung, Traum und Realität unterscheiden können. All diese einzelnen Aspekte sollen bezogen auf die verfahrensgegenständliche Tat beurteilt werden. Damit einhergehend soll im Vorfeld die sittliche und die geistige Entwicklung des jugendlichen Angeklagten zum Tatzeitpunkt begutachtet werden. Allerdings wird im Schrifttum auf die Notwendigkeit der Gesamtbeurteilung im Gefüge der bisherigen – wenn vorhanden – Taten hingewiesen.
Aus Gutachtersicht ist auch die Verankerung solcher Konzepte im tatfernen Alltag wichtig, z. B. das grundlegende Verständnis von Recht und Unrecht, von Legitimation von Gewalt, Strafen etc. Je komplexer die vorgeworfene Straftat, desto schwieriger ist die Beurteilung der o. g. Konzepte in Bezug auf diese. So ist die Einsichtsfähigkeit in die Verwerflichkeit einer Urkundenfälschung z. B. entwicklungspsychologisch später anzutreffen als die für Diebstahl. Auch jüngere Kinder erkennen, dass es „nicht in Ordnung ist“ von jemandem etwas wegzunehmen, ohne dessen Einwilligung. Oder, dass „Schläge nicht ok“ sind.
Allerdings ergeben sich hier große kulturspezifische Unterschiede. Die Unrechtserkenntnis kann von Kultur zu Kultur unterschiedlich sein. Aus eigener Erfahrung im sowohl klinischen als auch forensischen Bereich zeigt sich dies am Beispiel des Ehrverständnisses. In familienorientierten, kollektivistischen Kulturen haben 10-jährige Kinder eine Vorstellung von „Ehre“, vor allem „Familienehre“. Auch von eventuellen Handlungen, die für die Familienehre schädlich sein könnten.
Unabhängig vom Entwicklungsstand des Täters bzw. des Angeklagten wirkten sich kulturspezifische Merkmale des Öfteren vor deutschen Gerichten – leider insbesondere bei Femiziden oder Gewalt gegen Frauen – strafmildernd aus. In vielen Fällen entschieden sich die Gerichte für mildernde Umstände aufgrund der starken Verankerung der Tat in kulturell-heimatliche Prägungen des Täters. Wie bereits erwähnt, ist dies ohne Berücksichtigung des Entwicklungsalters – also in den meisten Fällen handelte es sich um erwachsene Beschuldigte bzw. Angeklagte.
Gutachterlicherseits ergeben sich Schwierigkeiten bei langdauernden strafbaren Handlungen, z. B. Taten über mehrere Tage oder Stunden, mit Wechsel der Umgebung, der Beteiligten etc. Auch zum Gutachtenauftrag kommt es, wenn eine kinder- und jugendpsychiatrische Erkrankung oder Entwicklungsverzögerung vorliegt bzw. vermutet wird. Eine „erschwerte Sozialisation“ alleine ist kein Hinweis auf eine psychische Störung.
Natürlich kann daraus eine psychische Störung resultieren, es bleibt dennoch die Frage zu beantworten – wie bei allen anderen psychischen Störungen – ob diese zum Tatzeitpunkt wirksam und relevant war und ob durch die psychische Störung eine Beeinträchtigung der Erkenntnis nach Recht und Unrecht bzw. eine Einschränkung der Steuerungsfähigkeit verursacht wurde. Bei dem obigen Beispiel mit langgezogenem Tatgeschehen soll gutachterlicherseits die gesamte Handlung fragmentiert und in einzelnen Elementen auf die o. g. Beurteilungsaspekte analysiert werden, z. B. kann eine Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens mit dem Symptomschwerpunkt „erhöhte Impulsivität“ eine Aufhebung oder Einschränkung der Steuerungsfähigkeit in der einen Handlungsetappe darstellen, jedoch nicht in weiteren Etappen der Handlungskette (z. B. Körperverletzungsdelikt: bestehend aus Beschaffung der Waffe, Begehung der Körperverletzung, Verstecken der Tatwaffe, Entsorgen derselben).
Es ist hier zu beachten, dass es nicht Aufgabe des forensischen Sachverständigen ist, zu entscheiden, ob es hier um Schuld oder nicht geht. Das ist eine juristische Aufgabe. Der gutachterliche Auftrag besteht darin, die o.g. Aspekte der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit im Lichte der Gesamtpersönlichkeit und der entwicklungspsychopathologischen Merkmale des Einzelfalls zu beurteilen und eine fundierte Entscheidungsgrundlage für die Gerichte bzw. Staatsanwaltschaften anzubieten.
Quellen:
Günter, M & Karle M. Das Gutachten zu Strafmündigkeit und Entwicklungsstand. In: Kröber, Dölling, Leygraf & Sass (Hrsg.). Handbuch Der forensischen Psychiatrie: Band 2: Psychopathologische Grundlagen und Praxis der forensischen Psychiatrie im Strafrecht, 2011. Steinkopff-Verlag Darmstadt.
Kasselt, J & Oberwittler, D. Die richterliche Bewertung von Ehrenmorden in Deutschland: Eine empirische Analyse der Sanktionspraxis im Zeitraum 1996 bis 2005. Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform, vol. 97, no. 3, pp. 2014. https://doi.org/10.1515/mks-2014-970303
Schepker, R. Reife und Entwicklungsstand – Grundlagen und Bewertung der Reifebeurteilung. In: Häßler, F., Kinze, W., & Nedopil, N. (Hrsg.). Praxishandbuch Forensische Psychiatrie des Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalters: Grundlagen, Begutachtung und Behandlung, 2013. MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft.
Schepker, R. Strafrechtliche Reife, strafrechtliche Verantwortlichkeit, Unrechtserkenntnis und Steuerungsfähigkeit. In: Häßler, F., Kinze, W., & Nedopil, N. (Hrsg.). Praxishandbuch Forensische Psychiatrie des Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalters: Grundlagen, Begutachtung und Behandlung, 2013. MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft.
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