Ob Schrapnellwunden oder PTBS – die medizinische Lage in der Ukraine ist desaströs, die Versorgung von Kriegswunden ist Alltag. Besonders schwierig für Ärzte an der Front: Die russische Armee vermint Krankenhäuser.
11.126 tote und 21.863 verletzte Zivilisten. Dazu: 250.000 getötete und verletzte russische Soldaten – und 120.000 ukrainische Soldaten: Das ist die Bilanz des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine bis heute. Wer sich die Größenordnung vor Augen führt, ahnt schnell in welchem Zustand das ukrainische Gesundheitssystem vor Ort sein muss und unter welchen Bedingungen Ärzte dort Hilfe leisten.
Noch dramatischer wird die Situation, wenn man bedenkt, dass Ärzte während ihrer Arbeit unentwegt russischen Luftangriffen ausgesetzt sind. So sind seit Beginn des Krieges rund 1.600 Gesundheitseinrichtungen bombardiert worden. Mehr als 20 Krankenhäuser wurden bereits zu Beginn des Krieges komplett zerstört. Entsprechend fehlt es der ukrainischen Gesundheitsversorgung an allem, auch weil Lieferketten unterbrochen sind und die Mobilität stark eingeschränkt ist.
Eine noch dringlichere Gefahr: Die ärztlichen Arbeitsorte wurden aktiv vermint. „Der Einsatz von Landminen ist in Frontgebieten weit verbreitet, aber dass sie in medizinischen Einrichtungen platziert wurden, ist schockierend: ein bemerkenswerter Akt der Unmenschlichkeit. Es ist eine klare Botschaft an alle, die auf der Suche nach Medikamenten oder Behandlungen sind: Krankenhäuser sind kein sicherer Ort“, sagt Vincenzo Porpiglia, Projektkoordinator für die Einsätze von Ärzte ohne Grenzen in der Region Donezk.
Bei solchen Gefahren ist leicht nachzuvollziehen, dass die Zivilbevölkerung entsprechende Orte meidet. Die Folge: Menschen mit chronischen Krankheiten wurden und werden oftmals wochen- und monatelang nicht behandelt oder haben keinen Zugang zu ihren Medikamenten.
„Der Krieg hatte verheerende Auswirkungen auf die Kontinuität der Gesundheitsversorgung für Menschen mit Vorerkrankungen wie Diabetes und Bluthochdruck sowie auf die psychische Gesundheit der Menschen, die Angst, Isolation und Kämpfe erlebt haben – sowohl für die Binnenvertriebenen als auch für diejenigen, die noch in der Nähe der Front leben“, bestätigt Christian Katzer, Geschäftsführer von Ärzte ohne Grenzen (ÄoG) in Deutschland, gegenüber den DocCheck News die dringliche Lage für die zivile Versorgung.
Die weltweit agierenden Ärzte engagieren sich besonders stark im Kriegsgebiet und können ein detailliertes Bild der ärztlichen und versorgungstechnischen Situation geben. So ist ÄoG mit 30 internationalen sowie 323 lokal angestellten Mitarbeitern vor Ort. Neben einem eigenen Ambulanzdienst, der Patienten aus Städten evakuiert sowie einer eigenen mobilen Klinik, haben sich diese auf die Unterstützung der gegebenen Infrastruktur spezialisiert.
„Unsere Teams arbeiten vor allem im Süden und Osten des Landes und helfen der ukrainischen Bevölkerung dort, indem wir die durch den Krieg entstandenen Lücken im Gesundheitssystem schließen. Außerdem arbeiten wir mit unseren mobilen Kliniken nahe der Frontlinie und leisten dort einerseits medizinische Grundversorgung und psychologische Hilfe. Auf der anderen Seite sind unsere Ärzte aber auch in den Notaufnahmen und Intensivstationen der Frontkrankenhäuser tätig“, so Katzer.
Was das konkret heißt: Bis heute haben ÄoG 3.808 Menschen evakuiert, 12.720 Menschen mit psychischen Problemen behandelt, verzeichneten 59.567 Konsultationen zu primären Gesundheitsanliegen und führten 479 chirurgische Eingriffe durch. Das Gros der Patienten kam aufgrund von Gewalttrauma in die Notaufnahmen. 17 % von ihnen wurden gar als „rote Fälle“ eingestuft. Das bedeutet, dass eine unmittelbare Lebensgefahr für den Patienten besteht und die Behandlung innerhalb von 30–60 Minuten nach dem ersten medizinischen Kontakt erfolgen sollte. Für die Ärzte vor Ort heißt das in erster Linie, dass sie traumatische Verletzungen durch Granaten, Bomben- und Schrapnelleinschläge behandeln. Mit Blick auf alle Behandlungsfälle ist die jährliche Amputationsrate in der Ukraine von 30.000 auf 100.000 Fälle gestiegen.
Auf der anderen Seite steht die psychotherapeutische Versorgung. Im Laufe des letzten Jahres haben Ärzte ohne Grenzen spezialisierte psychotherapeutische Dienste sowie ein Zentrum für psychische Gesundheit bereitgestellt und bereits mehr als 770 Sitzungen mit Patienten durchgeführt. Häufigstes Leiden dabei: kriegsbedingte Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Daneben haben sich die internationalen Ärzte den Aufbau und Unterstützung zur allgemeinen psychischen Gesundheitsversorgung auf die Fahne geschrieben und bilden das medizinische Personal weiter.
Dass die medizinische Versorgung angesichts der kriegsbedingten Mehrbelastung überhaupt noch funktioniert, ist dank telemedizinischer Unterstützung aus anderen europäischen Ländern, einer Reihe von bilateralen Projekten sowie der Aufnahme von Kriegsversehrten im ukrainischen Ausland möglich. So hat die Berliner Charité gemeinsam mit 33 anderen Einrichtungen im Rahmen des Netzwerks SOLOMYA rund 20.000 Patienten versorgt und durch Online-Angebote weitere 100.000 Personen unterstützt. Dazu konnten die deutschen Ärzte Wissen zur psychologischen Ersthilfe, der Betreuung von Personal, zur Burnout-Prävention, zu Resilienztrainings von Gesundheitspersonal sowie der psychischen Gesundheit von Müttern vermitteln.
Erst im Juni billigte der deutsche Bundestag zudem weitere Hilfen für das ukrainische Gesundheitssystem im Wert von 105 Millionen Euro. Schwerpunktmäßig wird hier in telemedizinische Hilfe, Prothetik, Brandverletzung und Rettungswesen, medizinische Güter oder die direkte Unterstützung von Ärzten und Pflegekräften investiert.
In der unmittelbaren geografischen Nachbarschaft wird Krieg geführt, überführte Patienten geben einen ersten Eindruck von den medizinischen Herausforderungen, die da warten. Parallel dazu möchte Bundesgesundheitsminister Lauterbach im Rahmen der anstehenden Krankenhausreform ausdrücklich keine Krisen- und Kriegsfall-Planung aufnehmen.
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