Wie steht’s um die geistige Verfassung von Joe Biden? Das fragen sich nach seinem letzten TV-Duell gegen Trump wohl viele. Unsere Experten ordnen die Lage ein.
Lange wurde wohl nicht mehr so viel über die geistige Gesundheit von Staatsoberhäuptern geredet, wie beim amtierenden und dem vorherigen Präsidenten der USA. Jüngst lieferten sich Joe Biden und Donald Trump ein Fernseh-Duell – und wollten damit potenzielle Wähler überzeugen. Das ging für den amtierenden Präsidenten ordentlich nach hinten los. Medien titelten: „Ist Biden senil?“, „Anzeichen von Demenz“ oder „Wie altersschwach ist Biden?“.
Wir haben bei einem Neurologen und einem psychologischen Psychotherapeuten nachgefragt, wie sie die Bilder des TV-Duells beurteilen und wie viel man auf diese Ferndiagnosen geben sollte.
„Bei der aktuellen Debatte um den mentalen Zustand von Joe Biden können wir uns nur auf die Videosequenzen von dem einen besagten TV-Duell oder auf anderen Medienaufnahmen stützen. Hier liegt natürlich die Gefahr der fehlenden Seriosität und Fachlichkeit“, sagt der psychologische Psychotherapeut Dr. Ahmed El-Kordi.
„Viel zu oft wurde bei Biden eine demenzielle Erkrankung für wahrscheinlich gehalten. Aus dem klinischen Alltag ist eine solche Diagnosestellung, selbst nach Durchführung von standardisierten Verfahren, kein Kinderspiel. Insbesondere, wenn es sich um Frühstadien oder subklinische Formen einer Demenz oder einer allgemeinen kognitiven altersbedingten Beeinträchtigung handelt. Die Feststellung einer milden kognitiven Beeinträchtigung – mild cognitive impairment – die oft als Vorstufe oder Frühstadium einer demenziellen Erkrankung erachtet wird, erfordert unterschiedliche Informationsquellen – allen voran eine neuropsychologische Untersuchung, fremdanamnestische Daten und eine prämorbide Funktionsbeurteilung. Auch eine Verlaufsuntersuchung, welche laufende Medikation und chronische Grunderkrankungen mitberücksichtigt, ist von großer Bedeutung.“
Nur alt oder auch krank? Joe Biden (81) und Donald Trump (78) kämpfen um das Amt des US-Präsidenten.
„Wenn wir jedoch rein phänomenologisch vorgehen würden und uns die hier dargestellten – nicht berichteten – Symptome oder Verhaltensweisen anschauen, dann handelt es sich um einen 81-jährigen Mann, der unter enormen physiologischen und psychologischen Stressoren steht, bei dem auch altersbedingt gewisse kognitive Abbauerscheinungen gar nicht so unwahrscheinlich sind.“ Laut Literatur könne man einen Gewichtsverlust des Gehirns von um die 10 % bei 80-jährigen ermitteln. „Die Abnahme des Hirnvolumens im Alter ist meist auf neurostrukturelle Veränderungen, wie z. B. die Reduktion von Dendriten und Synapsen, sowie apoptotische Prozesse in den Neuronen, zurückzuführen. Diese Veränderungen sind auch für den Rückgang von Interneuronen zuständig, welche eine sehr relevante Rolle bei komplexeren kognitiven Leistungen spielen.“
Auch Wortfindungsstörungen, wenn sie sporadisch vorkommen, insbesondere unter psychischem Stress, seien nicht zwangsläufig Symptome einer neurokognitiven Erkrankung. „Alt sein ist keine Krankheit!“, so der Psychologe. Doch er lenkt ein: „Auf der anderen Seite fällt das Gangmuster von Joe Biden auf. Auch seine Mimik sticht in einigen Sequenzen ins Auge. An vielen Stellen fällt die psychomotorische Verlangsamung und eine gewisse Rigidität auf. Der kleinschrittige Gang ist in einigen Sequenzen sehr auffällig.“
Auch der Neurologe Dr. Johannes Heinemann weiß, dass man sich bei Ferndiagnosen zu TV-Material weit aus dem Fenster lehnt: „Natürlich ist es nicht möglich, nur aufgrund von Videomaterial eine Ferndiagnose zu stellen. Ohne eine direkte Untersuchung des Betroffenen bleiben letztendlich alle Aussagen Spekulation.“ Wolle man aber spekulieren, so fielen bei Joe Biden deutliche Anzeichen für neurologische Einschränkungen auf. Auch Heinemann verweist auf Bidens Gangbild: „Es erscheint häufig kleinschrittig, auch scheint es ihm häufig nur verzögert zu gelingen, die Bewegung in Gang zu setzen – er wirkt dann über etliche Sekunden wie eingefroren. Diese Symptome kommen einerseits bei Parkinson vor, sind andererseits aber auch häufig bei einer zerebralen Mikroangiopathie anzutreffen. Außerdem treten, besonders eindrücklich beim TV-Duell, sprachliche Aussetzer zum Vorschein und die Konzentrationsfähigkeit scheint beeinträchtigt, wenn es ihm nach einiger Zeit schwerfällt, zu den Fragen passende Antworten zu geben.“
Beides seien Symptome, die bei einer Demenz, vor allem vom vaskulären Typ, auftreten könnten, so der Neurologe. „Voraussetzung für die Diagnose einer Demenz ist, dass die Abnahme der Gedächtnisleistung zu einer Beeinträchtigung des täglichen Lebens führt. Dies lässt sich aus den verfügbaren Videos und Informationen über Joe Biden nicht ableiten.“
El-Kordis Fazit: „Zusammenfassend kann ich keine eindeutigen Zeichen eines psychomentalen Syndroms – vor allem einer neurokognitiven Störung – von der Ferne aus feststellen. Die Unkonzentriertheit und die Wortfindungsstörungen können auch durch die Variablen „hohes Alter“ und „Stress“ erklärt werden.“ Hier fehlen dem Experten eindeutig einige Informationen. Ferndiagnosen möchte er aber per se nicht verteufeln: „Spätestens seit der Coronapandemie und den Ausgangsbeschränkungen floriert die telemedizinische Branche mit neuen Apps und internetbasierten Anwendungen. Es existieren Unternehmen, die per Telemedizin Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen attestieren und Diagnosen per Online-Sprechstunde stellen. Was ist dann der Unterschied zu der laufenden medialen ferndiagnostischen Überbietung? In der Telemedizin sammelt man individuelle Daten, stellt Fragen und prüft vielleicht sogar Ergebnisse von Bildgebung oder Laborverfahren. Man kann auch ein standardisiertes Interview durchführen – etwas, was genauso in der Face-to-Face-Situation passiert.“
Heinemann bringt wohl die Sorgen vieler Zuschauer der Debatte auf den Punkt: „Dennoch geben die Bilder Anlass zur Sorge über den Gesundheitszustand des amerikanischen Präsidenten. Vor allem aufgrund der Tatsache, dass solche Symptome häufig über die Jahre langsam progredient sind. Der Herausforderer zeigt zwar weniger Anzeichen für progrediente kognitive Ausfälle, dafür jedoch über die Zeit stabile Auffälligkeiten, die man eher dem psychiatrischen Bereich zuordnen würde. Will man also über den Gesundheitszustand der beiden Präsidentschaftskandidaten spekulieren, so würde man den Amerikanern bessere Optionen bei der kommenden Wahl wünschen.“
Bildquelle: Matt Bennett, Unsplash