Ein rotes Positionspapier erhitzt die Gemüter. Die Idee: Schwangere, die abtreiben wollen, sollen nicht mehr zur Beratung verpflichtet werden. Was ich davon halte.
Für Eilige gibt’s am Ende des Artikels eine kurze Zusammenfassung.
Seit 50 Jahren steht der § 218 in einer kontroversen Diskussion. Zweimal hat sich das Bundesverfassungsgericht um eine tragfähige Lösung bemüht. Entstanden ist dabei eine bis heute rechtsgültige Kompromisslösung aus dem Dilemma Selbstbestimmungsrecht der Frau und Lebensrecht des Kindes. Nach Auffassung des höchsten Gerichts besitzt das ungeborene Kind die Menschenwürde und muss entsprechend verfassungsrechtlich geschützt werden. Davon abgeleitet wird ein Schwangerschaftsabbruch grundsätzlich als Unrecht gewertet. Um die Grundrechtsposition der Schwangeren zu berücksichtigen, wurde in Ausnahmefällen und unter Einhaltung von Vorgaben ein Abbruch als zulässig ermöglicht.
Diese Kompromisslösung findet in der bis heute bestehenden Fristenregelung ihren Ausdruck. Bis 12 Wochen nach der Konzeption und nach einer erfolgten Beratung, kann eine Frau sich gegen ihre Schwangerschaft entscheiden.
Von jährlich ca. 100.000 Abbrüchen in Deutschland werden:
Im Jahr 2012 wurden über 106.000 Abbrüche pro Jahr registriert. Danach sank die Anzahl kontinuierlich bis auf einen Tiefstand von nahezu 95.000 Abbrüchen im Jahr 2021. Seitdem ist ein Anstieg bis etwa 106.000 Abbrüche zu verzeichnen.
Die Bundesregierung drängt auf eine Reform der momentanen Rechtssituation. Deshalb wurde im vergangenen Jahr eine Kommission aus verschiedenen Fachrichtungen beauftragt, Vorschläge zu erarbeiten. Das Ergebnis wurde am 15. April 2024 vorgelegt. Nun hat die SPD-Bundestagsfraktion mit einem Positionspapier Stellung bezogen.
Mit diesem am 25. Juni 2024 vorgelegten Positionspapier soll das Selbstbestimmungsrecht der Frau gestärkt und Schwangerschaftsabbrüche entkriminalisiert werden. Legale Schwangerschaftsabbrüche sollten demnach als ein grundlegendes Menschenrecht angesehen werden. Die geltende Rechtswidrigkeit von Schwangerschaftsabbrüchen sei nicht mit den Grundrechten der Schwangeren vereinbar. Man halte eine gesetzliche Neuregelung trotz der derzeitigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts für möglich. Die angestrebte Reform wird durch eine neue Gewichtung des Rechts auf reproduktive Selbstbestimmung begründet. Diese Betonung eines höheren Selbstbestimmungsrechts drücke sich auch im Europarecht oder in der Forderung der WHO nach sicheren und legalen Schwangerschaftsabbrüchen aus.
„Das Lebensrecht des ungeborenen Kindes und die Rechte der Schwangeren müssen daher neu austariert werden“, heißt es im Positionspapier. Anstelle des § 218 sollen Schwangerschaftsabbrüche in einem sogenannten Schwangerschaftskonfliktgesetzt geregelt werden. Demnach sollen Abbrüche innerhalb einer neu festgelegten Fristenregelung legal sein: „Wir sprechen uns für eine Frist aus, die an der Überlebensfähigkeit des Fötus außerhalb des Uterus mit ausreichend zeitlichem Abstand anknüpft.“
Sobald eine Überlebensfähigkeit besteht, bleibt ein Abbruch grundsätzlich verboten. Diese zeitliche Frist entfällt wie bisher bei einer medizinischen Indikation. Wird eine Schwangerschaft nach Ablauf der gesetzlichen Frist beendet, sollen Ärzte strafrechtlich sanktioniert werden können, nicht aber die Schwangere.
Die Grenze zur extrauterinen Lebensfähigkeit mit derzeit etwa SSW 24+0 (in Einzelfällen auch SSW 22+0) ist schwierig zu generalisieren. Kommt das Kind lebend zur Welt, entsteht ein Dilemma bezüglich der weiteren neonatologischen Versorgung. Demzufolge müsste an der Grenze zur Lebensfähigkeit ein Fetozid, d. h. die intrauterine Tötung des Kindes, vorausgehen. Außerdem könnte die medizinische Forschung die Grenze zur Lebensfähigkeit weiter vorverlegen. Vereinzelt spielt auch das kindliche Geschlecht eine Rolle. Nicht ohne Grund dürfen humangenetische Geschlechtsbestimmungen erst nach der 12. SSW mitgeteilt werden. Es müsste dann, auch mit der sonographischen Geschlechtsbestimmung, bis nach der Grenze zur Lebensfähigkeit abgewartet werden. Dass eine Missachtung der gesetzlichen Frist bei Ärzten und Schwangeren unterschiedlich sanktioniert werden soll, lässt Fragen offen.
Die Beratungspflicht soll durch ein Recht auf Beratung ersetzt und von Ärzten zwingend beworben werden: „Ärztinnen und Ärzte sollen verpflichtet werden, im Rahmen der medizinischen Aufklärung auf psychosoziale Beratungsangebote hinzuweisen“, so die Forderung im Positionspapier.
Kritik kommt u. a. von der Caritas-Präsidentin Eva Maria Welskop-Deffaa: „Die SPD plant ernsthaft ein Aussetzen der Beratungspflicht für ungewollt schwangere Frauen. Das enttäuscht uns sehr.“ Die Beratungspflicht habe sich bewährt, weil sie Betroffenen verlässlichen Zugang zu allen wichtigen Informationen ermöglicht.
Prof. Matthias David ist geschäftsführender Oberarzt an der Charité und Mitautor der ersten Leitlinie zum Schwangerschaftsabbruch. Er hat in einer Studie die Konfliktursachen bei ungewollt Schwangeren analysiert. Hierbei wurde eine Differenz von durchschnittlich 28,5 % zwischen Beratungs- und Abbruchzahl gefunden. Damit hätten sich im untersuchten Zeitraum zwischen 2017 und 2021 knapp ein Drittel der beratenen Frauen gegen einen Schwangerschaftsabbruch entschieden.
Credit: Dienerowitz und David
„Um effektive Hilfen zu entwickeln und anbieten zu können, ist eine detaillierte Kenntnis der Notlagen und Konfliktgründe von Schwangeren von grundlegender Bedeutung. Die Etablierung einer standardisierten, deutschlandweiten Erfassung von Konfliktgründen durch die Beratungsstellen ist dafür ein möglicher Lösungsansatz“, so ein Fazit der Studie.
Schwangerschaftsabbrüche sollen nach Meinung der SPD-Bundestagsfraktion durch die Krankenkassen finanziert und Teil des Leistungskatalogs werden. Krankenhäuser mit Gynäkologie sollen verpflichtet werden, entweder selbst Abbrüche durchzuführen oder Schwangere an eine geeignete Stelle weiterzuleiten. Die Beschaffung von Medikamenten, die für einen medikamentösen Abbruch benötigt werden, müsste erleichtert werden. Schwangere sollen ein Recht auf die Methodenwahl haben. Über die Approbationsordnung müssten Schwangerschaftsabbrüche zu einem verbindlichen Inhalt des Lernzielkatalogs werden. Das ärztliche Weigerungsrecht, einen Abbruch vorzunehmen, soll grundsätzlich erhalten bleiben. Sogenannte Gehsteigbelästigungen von Lebensschutzorganisationen werden als Ordnungswidrigkeiten sanktioniert.
In Zukunft werden mehr Forschungsmittel für Verhütungsmittel, gerade auch für Männer, in Aussicht gestellt. Fehlinformationen, insbesondere zum Post-Abortion-Syndrom, soll durch staatliche Informationsangebote entgegengetreten werden. „Um gegen irreführende Beratungsangebote vorzugehen, sollen bestehende rechtliche Möglichkeiten noch besser genutzt werden“, stellt das Positionspapier in Aussicht.
Eine Stärkung des Selbstbestimmungsrechts der Schwangeren und deren volle Unterstützung im Konfliktfall sind unerlässlich. Dabei die Gewissensentscheidung von Ärzten unangetastet zu lassen, ist eine kluge Entscheidung. Kritisch erscheinen jedoch medizinische und ethische Hürden bei der Fristenregelung an der Grenze zur Lebensfähigkeit. Die Pflichtberatung als hilfreiche Chance zu einer guten individuellen Wegfindung aufzugeben, scheint riskant. Fragil mutet auch die ärztliche Rolle in der Beratungssituation und die alleinige ärztliche Sanktionierung bei Fristenverletzungen an.
Kurze Zusammenfassung für Eilige:
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