Wie niedrig die Blutdruck-Zielwerte von Hypertonie-Patienten sein sollten, sorgt regelmäßig für heiße Diskussionen. Der neueste Schrei: Die Senkung auf unter 120 mmHg. Aber ist das wirklich für alle sinnvoll – und in der Praxis überhaupt machbar?
Für Eilige gibt’s am Ende des Artikels eine kurze Zusammenfassung.
Seit Veröffentlichung der SPRINT-Studie 2014 hält die Diskussion um Grenzwerte und Behandlungsziele bei einer arteriellen Hypertonie an. Manche Ärzte nahmen SPRINT zum Anlass, eine deutliche Senkung des Blutdrucks auch unabhängig vom Alter zu favorisieren, andere blieben skeptisch, ob eine radikale Senkung auch tatsächlich einen Nutzen aufweist.
Liu et al. untersuchten in ihrer aktuellen Studie, erschienen im Fachblatt The Lancet, ob eine Senkung des systolischen Blutdrucks auf <120 mmHg der Senkung des systolischen Blutdrucks auf <140 mmHg überlegen ist – insbesondere bei Patienten mit bestehendem Diabetes mellitus und bei Patienten mit einem Schlaganfall in der Anamnese.
Es handelt sich um eine offene, randomisierte, kontrollierte Studie mit verblindetem Ergebnis. Es wurden Teilnehmer mit einem hohen kardiovaskulären Risiko aus 116 Krankenhäusern oder Gemeinden in China in die Studie eingeschlossen. Im Anschluss erfolgte eine Randomisierung, um die Teilnehmer einer Intensivbehandlung zuzuordnen, die auf einen standardmäßigen systolischen Blutdruck von <120 mmHg in der Praxis abzielte, oder einer Standardbehandlung, die auf <140 mmHg abzielte.
Der primäre Endpunkt war eine Kombination aus Myokardinfarkt, Revaskularisation, Krankenhausaufenthalt wegen Herzinsuffizienz, Schlaganfall oder Tod aus kardiovaskulären Gründen, bewertet nach dem Intention-to-treat-Prinzip. Es wurden 11.255 Teilnehmer (4.359 mit Diabetes und 3.022 mit vorangegangenem Schlaganfall) einer Intensivbehandlung (n=5.624) oder einer Standardbehandlung (n=5.631) zugewiesen. Ihr Durchschnittsalter betrug 64,6 Jahre (± 7,1). Der mittlere systolische Blutdruck während der Nachbeobachtung, mit Ausnahme der ersten 3 Monate der Titration, betrug 119 mmHg (± 11,1) in der Intensivbehandlungsgruppe und 135 mmHg (± 10,5) in der Standardbehandlungs-Gruppe.
Während einer mittleren Nachbeobachtungszeit von 3,4 Jahren trat das primäre Ergebnisereignis bei 547 (9,7 %) Teilnehmern in der Intensivbehandlungsgruppe und 623 (11,1 %) in der Standardbehandlungs-Gruppe auf (Hazard Ratio (HR): 0,88; 95 % KI: 0,78–0,99; p=0,028). Schwerwiegende unerwünschte Synkopenereignisse traten in der Intensivbehandlungsgruppe häufiger auf (24 von 5.624) als in der Standardbehandlungsgruppe (8 von 5.631). Es gab keinen signifikanten Unterschied zwischen den Gruppen im Hinblick auf schwerwiegende unerwünschte Ereignisse wie Hypotonie, Elektrolytanomalie, Sturzverletzung oder akuter Nierenschädigung.
Die Autoren schlussfolgern: Bei Bluthochdruckpatienten mit einem hohen kardiovaskulären Risiko, unabhängig vom Diabetesstatus oder Schlaganfall in der Anamnese, ist eine Behandlungsstrategie mit einem systolischen Blutdruck von <120 mmHg anzustreben um schwerwiegende vaskuläre Ereignisse zu vermeiden.
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Dass der Blutdruck so weit wie möglich gesenkt werden sollte, befürwortet auch Prof. Karem Rahimi von der Universität Oxford. Er ist an der Blood Pressure Lowering Treatment Trialists Collaboration (BPLTTC) beteiligt und ist Studienleiter der 2021 erschienenen BPLTTC-Meta-Analyse. In einer Metaanalyse war eine Blutdrucksenkung bei Ausgangswerten von <120 mmHg bis ≥170 mmHg um 5 mmHg mit einer relativen Senkung um etwa 10 % für eine Schlaganfallhäufigkeit, eine Herzinsuffizienz und eine kardiovaskuläre Mortalität verbunden.
Doch eine soweit wie mögliche Blutdrucksenkung scheint nicht für jede Patientengruppe geeignet zu sein. In einer erschienenen Analyse der VALUE-Studie, zeigten sich schlechte Ergebnisse bei behandelten Hypertonikern mit bestehender linksventrikulärer Hypertrophie (LVH) und niedrigem Blutdruck. Die Autoren hatten Outcomes von Patienten mit LVH und ohne LVH verglichen, bei denen eine systolische Blutdrucksenkung von <130 mmHg erreicht werden konnte. Hier zeigte sich, dass Patienten ohne LVH mit einem durchschnittlichen systolischen Blutdruck <130 mmHg eine signifikant niedrigere Inzidenz mehrerer kardiovaskulärer Endpunkte aufwiesen. Anders sah das aber bei den Patienten mit LVH und einem systolischen Blutdruck <130 mmHg aus: Sie zeigten eine höhere kardiale Mortalität (HR 1,98; p=0,032) und Gesamtmortalität (HR 1,74; p=0,007).
In den USA liegt die Schwelle für eine arterielle Hypertonie bei 130/80 mmHg, in der S3-Leitlinie Hypertonie aus dem Jahr 2023 wird statt eines exakten Zielwerts ein Korridor zwischen 120/70 mmHg und 160/90 mmHg definiert. Jeder Patient sollte auf einen Wert <140/80 mmHg eingestellt werden. Eine Senkung auf Werte <130/80 mmHg ist zwar mit einem noch besseren Therapieergebnis verbunden, sollte aber nur erfolgen, wenn die Patienten unter einer intensiveren Therapie keine Nebenwirkungen haben, die sie nicht tolerieren können, so die Leitlinienempfehlung.
Die Diskussion um Grenzwerte und Behandlungsziele bei einer arteriellen Hypertonie ist noch nicht beendet. Doch neben der Suche nach der optimalen Zielwertdefinition sollte die Behandlungsrealität nicht aus den Augen verloren werden. Denn wenn wir Patienten mit vorliegender arterieller Hypertonie auf niedrigere Werte einstellen, um das Risiko noch weiter abzusenken, sie die Therapie aber nicht vertragen und dann am Ende ganz absetzen, ist am Ende nichts gewonnen.
Kurze Zusammenfassung für Eilige:
Quellen:
Ambrosius et al. The design and rationale of a multicenter clinical trial comparing two strategies for control of systolic blood pressure: the Systolic Blood Pressure Intervention Trial (SPRINT). Clin Trials, 2014. doi: 10.1177/1740774514537404
ESPRIT Collaborative Group. Lowering systolic blood pressure to less than 120 mm Hg versus less than 140 mm Hg in patients with high cardiovascular risk with and without diabetes or previous stroke: an open-label, blinded-outcome, randomised trial. Lancet, 2024. doi: 10.1016/S0140-6736(24)01028-6.
Blood Pressure Lowering Treatment Trialists' Collaboration. Pharmacological blood pressure lowering for primary and secondary prevention of cardiovascular disease across different levels of blood pressure: an individual participant-level data meta-analysis. Lancet, 2021. doi: 10.1016/S0140-6736(21)00590-0.
Heimark et al. Middle-Aged and Older Patients With Left Ventricular Hypertrophy: Higher Mortality With Drug Treated Systolic Blood Pressure Below 130 mm Hg. Hypertension, 2023. doi: 10.1161/HYPERTENSIONAHA.123.21454.
Bildquelle: Kyle Mackie, Unsplash