OnlineDoctor, ein Portal zum Online-Hautcheck, ist gerichtlich gegen seinen Rivalen Dermanostic vorgegangen: offiziell wegen Zertifizierungen der App. Warum vielleicht mehr dahinter steckt.
OnlineDoctor und Dermanostic bieten ähnliche – wenn auch nicht identische – Leistungen rund um die Telemedizin bei Hautveränderungen an: Patienten fotografieren ihre Hautläsion, machen im Anamnese-Bogen digital weitere Angaben und erhalten eine Bewertung von Hautärzten. Nach einer Klage von OnlineDoctor gegen seinen Konkurrenten, muss Dermanostic sein Angebot in der aktuellen Form einstellen bzw. das Tool aufwändig zertifizieren lassen. Zu dem Ergebnis ist das Oberlandesgericht Hamburg jetzt gekommen.
Das Urteil bleibt nicht ohne Folgen: Beide Anbieter haben sich für eine Ausschreibung der Techniker Krankenkasse (TK) zur Online-Dermatologie beworben. Doch ohne die eingeforderte Zertifizierung könnte Dermanostic Probleme bekommen. Noch ist die Entscheidung der TK nicht gefallen.
Zum Hintergrund: OnlineDoctor bedient sich eines geschickten europarechtlichen Schachzugs. Es geht um die Zulassung von Medizinprodukten. Der Anbieter hat für seine Software im Jahr 2021 ein Konformitätsverfahren gemäß der damals geltenden Richtlinie 93/42/EWG über Medizinprodukte durchlaufen. Er brachte das Tool in Risikoklasse I auf den Markt.
Die neue Medizinprodukteverordnung (Medical Device Regulation, MDR), auch Verordnung (EU) 2017/745 über Medizinprodukte genannt, trat im Mai 2021 in Kraft. Sie führt zu umfangreichen Änderungen der Risikoklassifizierung. Nur: Für bereits früher zertifizierte Produkte gelten Übergangsregelungen, auf die sich OnlineDoctor jetzt beruft. Und ein Verfahren der Zertifizierung nach Klasse IIa läuft. Ab dieser Risikoklasse ist ein aufwändiges, teures Konformitätsbewertungsverfahren für Medizinprodukte erforderlich. Schätzungsweise 2025 soll es so weit sein; bis dahin greift die besagte Übergangsregelung.
Genau hier liegt der Hund begraben: OnlineDoctor hat einen Startvorteil, Dermanostic aber nicht. Das Medizinprodukterecht wird zur Keule gegen die unliebsame Konkurrenz – das lässt sich zumindest vermuten.
Bei der Beurteilung besagter Medizinprodukte zitiert das OLG Hamburg folgenden Wortlaut der MDR:
„Software intended to provide information which is used to take decisions with diagnosis or therapeutic purposes is classified as class IIa, except if such decisions have an impact that may cause: death or an irreversible deterioration of a person’s state of health, in which case it is in class III; or a serious deterioration of a person’s state of health or a surgical intervention, in which case it is classified as class IIb.“
Sprich: Anwendungen zur Online-Dermatologie fallen laut OLG mindestens in die Risikoklasse IIa. Der Argumentation, Technologien seien nur zur Kommunikation, aber nicht zur Diagnostik, ist das OLG dabei nicht gefolgt.
Dermanostic muss dem Urteil zufolge gewährleisten, dass eine „asynchrone Untersuchung von Hautveränderungen mittels Aufnahme, Speicherung, Anzeigen und Übermittlung von digitalem Bildmaterial von den betroffenen Hauptarealen, sowie die Beantwortung eines Anamnesebogens und der Kommunikation (Chat) mit Fachärzten“ nur angeboten wird, wenn die App als Medizinprodukt der Klasse lla, Ilb oder III nach Anhang VIII, Regel 11 Verordnung (EU) 2017/745 zertifiziert ist. Solange dies nicht der Fall ist, muss laut OLG das Angebot eingestellt werden.
„Wir sind mit Dermanostic – Hautarzt per App weiter online verfügbar und behandeln digital; es ist alles in Ordnung – keiner geht offline, kein Service muss eingestellt werden“, schreibt Dr. Alice Martin, eine der Gründerinnen von Dermanostic auf LinkedIn. Zur „Verbesserung des Patientenmanagements“ ist die App aber weiterhin verfügbar, in Form einer Selbstzertifizierung nach Klasse I.
„Auch wenn diverse Presseberichte zu dem aktuellen Urteil des OLG Hamburg anderes behaupten: Es handelt sich hierbei um ein wettbewerbsrechtliches Verfahren (…)“, kommentiert Martin weiter. Firmenangaben zufolge hätte Dermanostic mit mehr als 300.000 Behandlungen eigentlich die besseren Karten bei der Ausschreibung der TK; OnlineDoktor kommt auf rund 200.000 Konsultationen.
Außerdem bildet Dermanostic die gesamte Patienten-Journey inklusive E-Rezept ab; Erkrankte müssen – anders als bei der Konkurrenz – ihre eventuelle Verordnung nicht in einer Praxis abholen.
Doch damit nicht genug: In einem mir vorliegenden Rundschreiben hat der BVDD seine Mitglieder explizit vor Dermanostic gewarnt. „Während das Unternehmen für Diagnose, Privatrezept und gegebenenfalls einen Arztbrief 25 Euro nach GOÄ berechnet, bleibt die Weiterbehandlung in den Praxen in der Regel im budgetierten Teil der Vergütung hängen“, schreibt der BVDD-Vorstand.
Und weiter: „Die Praxen erhalten die schwierigeren Fälle, die nicht auf die Schnelle online abgeklärt werden können, und sollen diese dann für die niedrige GKV-Vergütung versorgen, während für die Bagatellfälle das höhere Privat-Honorar abgeschöpft wird.“
Auch die Qualität ist Stein des Anstoßes. „So erkannte bei einem aktuellen Test von Hautscreening-Apps durch die Stiftung Warentest (Ausgabe 1/2023) eine Ärztin bei Dermanostic ein malignes Melanom nicht, diagnostizierte stattdessen eine gutartige Hautveränderung und riet zum Arztbesuch innerhalb von drei Monaten“, heißt es weiter. Der Versuch von Dermanostic, gegen den BVDD auf juristischem Wege vorzugehen, ist allerdings gescheitert.
Ich habe zu Details nachgefragt. Der BVDD selbst erklärt das genannte Rundschreiben u. a. mit „versorgungsrelevanten Unterschieden“. Nach Ansicht des Verbands sei nicht die unvollständige digitale Patienten-Journey problematisch, sondern der möglicherweise notwendige Schritt in die analoge Versorgung einer dermatologischen Praxis vor Ort, wenn Nutzer einer App auf digitalem Wege keine sichere Diagnose erhalten und die Therapie nicht mit der Ausstellung eines Rezeptes erledigt sei.
Wie der Verband mitteilt, habe es unter dem damaligen Präsidenten Klaus Strömer einen Kooperationsvertrag mit OnlineDoctor gegeben. Als Grund für die Zusammenarbeit nennt der BVDD das Alleinstellungsmerkmal von OnlineDoctor, dass Patienten ihre Hausarzt-Praxis in der Region für ihr Hautproblem aussuchten und der Arzt entscheide, ob Telemedizin möglich sei oder nicht.
Zum Zeitpunkt der Zusammenarbeit mit OnlineDoctor war Strömer zeitgleich Medical Director von OnlineDoctor. Sieht der Verband hier keinerlei Interessenkonflikt? Der BVDD erklärt dazu, Strömer habe dem Vorstand gegenüber erklärt, dass es keine finanziellen Verbindungen zwischen ihm und OnlineDoctor gegeben habe, auch nicht für die Nennung als „Medical Director“ auf der Website von OD. Das sieht stark nach Vetternwirtschaft der Risikoklasse IIa aus. Die Amtszeit von Strömer endete am 5. Juni 2021. Der damalige Kooperationsvertrag sei nicht mehr existent. Und Strömer selbst hat keine Aufgaben mehr im BVDD.
Was lernen wir daraus, unabhängig von den Aussagen des BVDD? Das Arzneimittel- und Medizinprodukterecht bietet – so zumindest meine Vermutung – Mittel und Wege, unliebsame Konkurrenten auszubremsen. Die Causa zeigt auch, mit welchen Hürden Start-ups zu kämpfen haben. Innovationen begünstigt das nicht gerade. Die EU-Bürokratie täte gut daran, die Grenzen ihrer regulatorischen Selbstverliebtheit neu zu justieren.
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