„Ein Arzt therapiert nicht leitliniengerecht, wenn er Akupunktur nicht empfiehlt“ – so könnte man die umstrittene Leitlinie zur Komplementärmedizin in der Onkologie auslegen. Wie konnten es Akupunktur und Homöopathie in die Leitlinie schaffen?
DocCheck: Unter Zielsetzung heißt es in der Leitlinie: „Patienten sollen mit der Suche nach seriöser Information nicht allein gelassen werden.“ Ist das gelungen?
Hübner: Ich glaube, wir kommen schrittweise deutlich weiter. Entscheidend ist, dass Ärzte und Pflegekräfte zumindest parat haben, dass Patienten nach Informationen suchen, und dann für den aktuellen Anlass Hinweise haben, wo man sich informieren kann.
DocCheck: Zum Beispiel in der Leitlinie!
Hübner: Genau, das wäre zum Beispiel eine ganz einfache Möglichkeit.
DocCheck: Wann kommt die Patientenleitlinie? Die Langfassung hat 645 Seiten – und die muss man auch richtig lesen können. Das ist von Patienten etwas viel verlangt.
Hübner Nicht nur von ihnen. Die Langfassung ist, wenn wir ehrlich sind, auch für den aktiv tätigen Arzt nicht geeignet, dafür hat er gar nicht die Zeit. Es wird deshalb an neuen Formaten mit kürzeren Hintergrundtexten gearbeitet.
DocCheck: Da die Leitlinie bereits veröffentlicht ist, liegt die Patientenleitlinie längst bei der Krebsgesellschaft, vermute ich. Und danach muss sie ja auch noch zur Krebshilfe. Es kann also noch dauern. Auch andere Patientenleitlinien hinken eine ganze Version hinterher. Die Empfehlungen sind dann ja veraltet.
Hübner: Dabei sind die Patientenleitlinien ja ein entscheidendes Format, auf das es ankommt.
DocCheck: Was mich überrascht hat: Es gibt in der Leitlinie keine Empfehlung, die komplementären Verfahren auf keinen Fall als Tumortherapie einzusetzen. Im Gegenteil: Bei Artemisia wird die Wirkung auf den Tumor diskutiert und in manchen Empfehlungen wird besprochen, ob das Verfahren die Wirksamkeit der Tumortherapie steigern kann. Wird bewusst offengelassen, ob die Verfahren nicht auch alternativ zu Stahl, Strahl und Chemo verwendet werden können?
Hübner: Eine spannende Anregung. Das sollten wir ins nächste Update aufnehmen. Bei den Bewertungen haben wir uns immer daran orientiert, was beworben wird. Und Artemisia wird eben als Tumortherapeutikum diskutiert.
DocCheck: Wie war die Atmosphäre beim Erarbeiten der Leitlinie? Ich vermute, dass es nicht einfach war, den Glauben an die Wirksamkeit der Verfahren der Evidenz unterzuordnen. Es war ja zum Beispiel auch die Deutsche Gesellschaft für Naturheilkunde dabei.
Hübner: Es gab einige intensive Diskussionen. Wir legen in meiner Arbeitsgruppe sehr strenge Maßstäbe an.
DocCheck: Und die Leitlinienmoderatoren haben es trotzdem unkritisch durchgewunken?
Hübner: Tatsächlich steht jetzt eine ganze Reihe positiver Empfehlungen in der Leitlinie, auch wenn die Evidenz das aus meiner Sicht nicht hergibt. Das Problem: Viele systematische Reviews und Metaanalysen haben formal das Evidenzlevel A1 und werden deshalb akzeptiert. Aber wenn die darin verwendeten Einzelstudien Quark sind, ist das Review auch Quark. Das Aufdröseln der Reviews und separate Betrachten der Einzelstudien ist aber eine sehr mühselige und zeitaufwändige Arbeit.
DocCheck: Wenn die ausgewerteten Studien keine Wirkung nachweisen können, führt das in der Leitlinie je nach Gruppe zu einer „kann-Empfehlung“ oder zu einer „sollte nicht-Empfehlung“. Warum? Das ist doch ein Problem, wenn die Empfehlung nicht einheitlich definiert sind.
Hübner: Das ist ein Riesenproblem, ja klar. Die strikteren Empfehlungen betreffen die substanzgebundenen Verfahren. Wir haben sehr streng gesagt, wenn kein Nutzen nachgewiesen ist, sollen die Leute das auch nicht anwenden. In den anderen Themen wie Akupunktur und Homöopathie hat die Mehrheit die Meinung vertreten, wenn kein Schaden nachgewiesen ist, sollen die Leute das doch machen. Mit dem Argument, dass auch unnötig aufgewendete Zeit und Geld ein Schaden sind, habe ich mich nicht durchsetzen können. Dabei sind die Kosten mitunter massiv.
DocCheck: Warum war das so schwer? Die meisten Fachgesellschaften, die an der Leitlinie mitgearbeitet haben, sind doch klar naturwissenschaftlich ausgerichtet.
Hübner: Im Prinzip ja, nur habe ich den Eindruck, dass viele Fachgesellschaften vor allem Mitglieder in die Leitliniengruppe geschickt haben, die im Bereich der Komplementärmedizin selbst aktiv sind und sie grundsätzlich sehr positiv sehen. Deshalb waren wir bei vielen Abstimmungen trotz der inhaltlichen Argumente nicht erfolgreich.
DocCheck: Neu sind die Empfehlungen zu Methadon, Zeolithe, Cannabinoide und Artemisia. Gab es da Überraschungen?
Hübner: Nein, überhaupt nicht. Bei Methadon mussten wir nur sehr auf Justiziabilität achten. Kollegen, die sich in den vergangenen Jahren kritisch zu Methadon als Mittel gegen Krebs beziehungsweise als Mittel, das die Wirksamkeit von Krebsmedikamenten unterstützt, geäußert haben, wurden von der Gruppe um Frau Friesen, die diese Wirksamkeit propagiert, angegriffen. Und eine Anwaltskanzlei hat auch Klagen eingereicht. Insofern bin ich wirklich stolz, dass wir mit der Leitlinie jetzt Kollegen etwas an die Hand geben, das sie zitieren können.
DocCheck: Die einzige soll-Empfehlung bekommt Sport. Das hat mich gewundert – nicht, dass es empfohlen wird, sondern dass Sport eine komplementärmedizinische Behandlung sein soll.
Hübner: Körperliche Aktivität ist die wichtigste Antwort, die wir Patienten geben können, wenn sie selbst aktiv werden wollen. Sobald eine eigene Sportleitlinie fertig ist, geht das bei uns raus.
DocCheck: Aber ist Sport eine komplementärmedizinische Behandlung im engeren Sinne?
Hübner: Das kommt auf die Definition an. Für mich ist Komplementärmedizin die Antwort auf die Frage des Patienten: Wie kann ich aktiv werden, um aus diesem Schlamassel wieder herauszukommen? Insofern sind Sport und Ernährung für mich die beiden Basics von komplementärer Medizin. Ich halte mich damit aber zurück, weil die Kollegen aus diesen beiden seriösen Fächern natürlich nicht in den Geruch von komischen Verfahren kommen wollen.
DocCheck: Eine methodische Frage: Wie sinnvoll ist es, nur Studien an Krebspatienten heranzuziehen, wie es die Leitlinie getan hat? Ob beispielsweise Meditation bei Schlafproblemen hilft, lässt die Leitlinie wegen fehlender Studien mit Krebspatienten offen, dabei gäbe es dazu sicher relevante Studien mit Nicht-Krebspatienten, die übertragbar wären.
Hübner: Die Frage der Übertragbarkeit ist knifflig, das haben wir noch stärker bei der Phytotherapie. Da müssen wir einmal methodologisch ran, in welchen Fällen man Daten von Patienten mit einer anderen Erkrankung auf Krebspatienten übertragen kann. Dazu müsste es wissenschaftlich gute Regeln geben, die es aber weltweit nicht gibt.
DocCheck: Meines Wissens wird das beim Schaden teilweise schon so gemacht: Ob zum Beispiel eine Stoßwellentherapie beim Tennisarm oder Fersensporn hilft, sind zwei Themen, die man getrennt untersuchen muss. Aber der Schaden ist derselbe, denn weh tut es immer, egal an welcher Stelle man schallt.
Hübner: Das haben wir auch in der S3-Leitlinie so gemacht. Der Schaden entsteht ja in Form von Wechsel- oder Nebenwirkungen der natürlichen Methode. Wenn wir wissen, dass eine Methode oder Substanz bei Menschen mit einer anderen Erkrankung solche negativen Wirkungen haben kann, dann ist es logisch, dass sie das auch bei unseren Patienten hervorrufen kann.
DocCheck: In der Empfehlung 4.5 zu Akupunktur heißt es: „Akupunktur sollte zur Senkung der Tumorschmerzen und/oder Einsparung von Analgetika bei diesen Patienten empfohlen werden.“ Heißt das, ein Arzt therapiert nicht leitliniengerecht, wenn er Akupunktur nicht empfiehlt?
Hübner: Ja, formal tut er das, wobei „sollte“ noch kein „muss“ ist. Aber inhaltlich ist die Formulierung der Leitlinie aus meiner Sicht falsch. Wie schon erwähnt: Wir haben eine Menge Reviews mit 1A-Evidenz, aber man muss sich die Studien einzeln anschauen, ob die Akupunktur besser als eine Scheinakupunktur wirkt und Interventionsarm und Kontrollarm gleichwertig behandelt werden. Die Evidenzaufarbeitung zu dem Kapitel kommt nicht aus meiner Arbeitsgruppe und unsere Bewertung, die wir jetzt schrittweise publizieren, kommt zu anderen Schlussfolgerungen. Bisher haben wir keine Studie gefunden, die nachweist, dass Akupunktur besser als eine Scheinakupunktur, also eine Art Placebo, ist.
DocCheck: Noch einmal zurück zur Empfehlung. Muss jetzt jeder Tumorarzt eine Fortbildung in Akupunktur machen?
Hübner: Nein, er muss es weder empfehlen noch selbst anbieten. Ich sehe die Empfehlung als extrem problematisch an. Sie ist meiner Meinung nach schlichtweg falsch, weil die Evidenz falsch interpretiert worden ist. Durch diese Empfehlung kann es zu einer Verzögerung bei der opiatgestützten Tumorschmerztherapie kommen. Dann hätten wir die Patienten in der Zeit der Akupunktur insuffizient schmerztherapiert.
DocCheck: Wie geht es Ihnen nach fünf Schnäpsen, also etwa 50 Milliliter reinem Alkohol?
Hübner: Keine Ahnung. Ich glaube, ich würde sie nicht mal runterkriegen.
DocCheck: Wie geht es Ihnen nach einem Glas Wasser, in dem 1 Tausendstel Milliliter Alkohol gelöst ist?
Hübner: Wunderbar.
DocCheck: Und wenn ich das Glas Wasser heftig schüttle, also im homöopathischen Sinne potenziere?
Hübner: Exakt genau gleich. Potenzieren ist natürlich völliger Unsinn.
DocCheck: Ich frage deshalb, weil 1:50.000 die schwächste Verdünnung von Wirkstoffen war, die in der Studie verwendet wurde, die als einzige homöopathische Studie in der Leitlinie als aussagekräftig akzeptiert wurde. In der Diskussion werden zwar methodische Einwände gegen die Studie angeführt, aber die absurd niedrige Wirkstoffkonzentration zählt nicht dazu. Dabei wird sogar erwähnt, dass das Potenzieren „physikalischen Gesetzen“ widerspricht. Warum schwächt ein Verstoß gegen physikalische Gesetze die Aussagekraft von Studien nicht?
Hübner: Das war eine intensivste Diskussion in der Gruppe. Es wurde zum einen argumentiert, wenn es Daten aus einer Studie gibt, dann ist das erst mal so, unabhängig davon, ob das naturwissenschaftlich möglich ist. Für diese Argumentation war eine starke Fraktion. Zum anderen hieß es, dass wahrscheinlich die Zuwendung für den Effekt verantwortlich ist, aber auch das sei ja positiv. Also sollte Homöopathie mindestens eine schwache Empfehlung bekommen.
DocCheck: In der Leitlinie steht jetzt, es sei „nicht ausgeschlossen“, dass die positiven Effekte auf Zuwendung und fehlende Verblindung zurückgingen. Es müsste doch heißen: „Die einzig mögliche Erklärung ist, dass …“
Hübner: Da bin ich völlig bei Ihnen. Aber eine Mehrheit der Leitliniengruppe hat sich gegen diese rationale Sichtweise entschieden.
DocCheck: Dabei gäbe es durchaus methodische Hebel. In der Leitlinie zur Kutanen Lyme Borreliose beispielsweise wird angemahnt, dass man beim Einsatz eines serologischen Tests unbedingt die Vortest-Wahrscheinlichkeit berücksichtigen soll. In der Bewertung von homöopathischen Studien wird die Vortest-Wahrscheinlichkeit – kein Wirkstoff, also auch keine Wirkung, also Vortest-Wahrscheinlichkeit gleich Null – ausgeblendet. Wie erklären Sie sich diese methodische Diskrepanz?
Hübner: Die Borreliose läuft nicht im onkologischen Leitlinienprogramm. Das ist dann im Endeffekt eine Frage, wie sich die Mehrheiten der Mandatsträger angesichts der unzweifelhaften Evidenz positioniert. Die Empfehlungen sind Abstimmungsergebnisse und wir waren häufiger in der Minderheit.
DocCheck: Inwiefern ist die EbM-Methodik der limitierende Faktor, die ja explizit alles ausblendet, was man aus anderen Wissenschaften weiß?
Hübner: Die EbM-Methodik limitiert sich an der Stelle auf eine etwas schwierige Art und Weise. Ich würde nicht so weit gehen, dass man da keine Studien machen darf, wenn eine Therapie keine rational erklärbare Wirkweise hat. Aber man muss die Fragen, die aus der Naturwissenschaft kommen, so adressieren, dass man sie in der Studie beantworten kann.
DocCheck: Das heißt, wenn die vermeintlichen Wirkstoffe 1:50.000 und höher verdünnt sind, hätte man das in der Interpretation der Studie berücksichtigen müssen, richtig?
Hübner: Das hätte man aus meiner Sicht berücksichtigen müssen. Das war aber leider nicht konsensfähig.
DocCheck: Der Deutsche Zentralverein homöopathische Ärzte sagt, die Studie „konnte die Wissenschaftler*innen überzeugen“. Wie finden Sie diese Aussage?
Hübner: Das sehe ich nicht so – die Mehrheit der Mandatsträger war nicht von der Wirkung der Globuli überzeugt, sondern sah den Zuwendungseffekt und wollte diesen den Patienten zukommen lassen. Stattdessen müssen wir aus meiner Sicht aber dafür kämpfen, dass alle Ärzte adäquat bezahlt werden, wenn sie sich Zeit für Patienten nehmen.
DocCheck: In der Studie heißt es, dass es 30 Jahre Forschung „noch nicht rechtfertigen“, Krebs homöopathisch zu behandeln. Das impliziert, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis Homöopathika als wirksame Mittel gegen Krebs anerkannt sind?
Hübner: In einer späteren Studie derselben Autoren wurde eine Lebenszeitverlängerung gezeigt. Diese Studie ist in den Konsultationsprozessen vorgeschlagen worden mit dem Argument, wir brauchen eine Empfehlung dazu. Das haben wir nicht gemacht, denn die Studie wird vom Verlag noch einmal geprüft. Es gab die Aufforderung der Uni Wien an das Journal, die Arbeit wegen methodischer Mängel zurückzuziehen. Auch wir haben viele Mängel nachgewiesen, so wurde zum Beispiel das Studienprotokoll nachträglich mehrfach geändert. Das Journal weigert sich seit vier Jahren, unseren Leserbrief oder andere Kritiken zu veröffentlichen oder den Artikel zurückzuziehen. Man muss sich an den Kopf fassen, wie diese Arbeit überhaupt durch den Reviewprozess gekommen ist.
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