„Gibt es da nicht auch was Natürliches?“ Bei solchen Fragen hilft ein Blick in die Alternativbibel für Krebspatienten – auch Leitlinie für Komplementärmedizin von onkologischen Patienten genannt.
Jung, weiblich, gebildet – so ist die typische Krebspatientin, die komplementäre Verfahren nutzt. Bis zu 90 Prozent aller Brustkrebspatientinnen vertrauen auf Verfahren jenseits der Schulmedizin, über alle Krebspatienten sind es etwa 50 Prozent. Patienten wollen damit die Nebenwirkungen von Strahl, Stahl, und Chemo abmildern, sie wollen die konventionellen Therapien unterstützen, sie wollen selbst aktiv werden und einige wollen damit auch ihren Krebs besiegen.
Wenn Krebspatienten mit solchen Wünschen kommen, hilft die S3-Leitlinie Komplementärmedizin in der Behandlung von onkologischen PatientInnen, die jetzt in der aktualisierten Version 2.0 erschienen ist. Sie ist ein „präzises Nachschlagewerk“ für alle gängigen Therapien, die in der Alternativszene en vogue sind. Gleich vier Fachgesellschaften sind federführend, Koordinatorin ist Jutta Hübner, Professorin für Integrative Onkologie an der Uniklinik in Jena.
Auf sagenhaften 645 Seiten führt die Leitlinie Sinn und Unsinn von Dutzenden Verfahren auf, mit denen Begleitsymptome behandelt werden sollen, von A wie Angst bis Z wie zerebrale Ödeme. Um es kurz zu machen: Sinnvolle Behandlungen sind dünn gesäht. Eine „soll“-Empfehlung bekommen nur Sport und Bewegung – wobei sich die Frage aufdrängt, warum das komplementärmedizinische Maßnahmen sind. Eine „sollte“-Empfehlung erhalten nur noch Tai Chi, Yoga und Akupunktur. Das war es dann auch schon.
Etliche Maßnahmen bekommen immerhin eine „kann“-Empfehlung. Hier gingen die Meinungen innerhalb der Leitlinienautoren jedoch auseinander, was das genau bedeutet: Während die Arbeitsgruppe, die medizinische Systeme wie Akupunktur und Homöopathie behandelte, ein „kann“ bereits vergab, wenn die Verfahren nicht besser als Placebo abschnitten, legten die anderen Arbeitsgruppen hier strengere Maßstäbe an. Sie vergaben ein „kann“ nur bei zumindest schwachen Hinweisen auf eine Wirksamkeit. Man könnte also zugespitzt sagen: Je mehr Wallawalla, desto großzügiger, je mehr echte pharmakologische Interaktion, desto strenger.
So betreffen die „soll nicht“-Empfehlungen, die von Maßnahmen klar abraten, ausschließlich die Ernährung, Vitamine und andere Nahrungsergänzungsmittel, die in hohen Dosen tatsächlich positiv oder negativ wirksam sein könnten. Etwas irritierend: Die Liste der negativ-Empfehlungen am Ende der Leitlinie führt zehn „soll nicht“-Empfehlungen auf, doch tatsächlich sind es fast doppelt so viele.
Noch eine Anmerkung zur Methodik: Wie man es von einer Leitlinie erwarten kann, befolgen die Autoren die Regeln der evidenzbasierten Medizin. Es wurden also nur Reviews und Studien – und zwar nur an Krebspatienten – ausgewertet. Das hat zwei Implikationen: Ob beispielsweise Meditation bei Schlafproblemen hilft, wird wegen fehlender Studien mit Krebspatienten nicht beantwortet, dabei gäbe es dazu sicher relevante Studien mit Nicht-Krebspatienten.
Auch werden esoterische Aspekte bestenfalls erwähnt, aber nicht in die Bewertung mit einbezogen. Bei der Homöopathie heißt es beispielsweise, dass eine Wirkverstärkung der homöopathischen Mittel durch Reiben, Schütteln und Verdünnen „den physikalischen Gesetzen widerspricht“. Das hält die Autoren aber nicht davon ab, so zu tun, als hätte die einzige ausgewertete Studie keine Zauberkügelchen, sondern echte Medikamente eingesetzt. So diskutieren die Autoren methodische Schwächen der Studie, bescheinigt ihr aber am Ende „stark positive Ergebnisse“. Dabei waren selbst die am höchsten konzentrierten Mittel noch 1 zu 50.000 verdünnt.
Vielleicht sollten in der nächsten Aktualisierungsrunde, wenn schon keine Physiker, dann doch zumindest Pharmakologen mit an Bord sein. Jedenfalls, die Homöopathen freut’s: Der Deutsche Zentralverein homöopathischer Ärzte feiert die Leitlinie, weil die Studie „die Wissenschaftler*innen überzeugen“ konnte.
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