Die Bestrahlung von Tumoren mit geladenen Partikeln ist deutlich effektiver als jene mit Röntgenstrahlen. In Anbetracht der hohen Kosten kommt dabei jedoch wohl nur ein Zehntel aller Tumorpatienten infrage. Daher gibt es Zweifel: Ist die Ionentherapie eine Technologie für die Zukunft?
Bis zu 200 Millionen Euro für die Strahlentherapie von eher seltenen Tumorarten investieren? Ist das sinnvoll? Mitarbeiter des Heidelberger Ionenstrahl-Therapiezentrums (HIT) würden auf diese Frage sicher ohne Zögern mit „Ja“ antworten.
Deutschland und Japan, das vier Anlagen dieser Art besitzt, gelten als Spitzenreiter in dieser Technologie. Weltweit, so schätzen Fachleute, wurden bereits rund 100.000 Patienten mit „schweren Ionen“ bestrahlt, die noch besser als etwa Protonen geeignet sind, den Tumor effektiv zu treffen, gleichzeitig aber gesundes Gewebe so weit wie irgend möglich zu schonen. In Europa gibt es zahlreiche Protonen-Bestrahlungszentren. Wahlweise mit schnellen geladenen Kohlenstoffatomen oder Protonen schießen können bisher aber erst drei: Neben Heidelberg sind das das italienische Pavia und das japanische Hyogo. In Deutschland begaben sich bisher rund 1.500 Patienten in das seit fünf Jahren fertiggestellte Zentrum – nach bisherigen Untersuchungen mit hoher Erfolgsquote. Dabei spezialisieren sich die Strahlentherapeuten unter der Leitung von Jürgen Debus vor allem auf Tumoren, bei denen andere radioonkologische Behandlungen versagen oder übermäßig viel Schaden im gesunden Gewebe anrichten.
Mit der Größe der Teilchen, die auf den Tumor treffen, nimmt auch deren Zerstörungskraft zu. Bei den großen Bestrahlungsanlagen erreichen Ionen beim Austritt aus der Beschleunigerschleife 70 Prozent der Lichtgeschwindigkeit. Im Gegensatz zu Photonen, die gleich beim Auftreffen auf ein Hindernis ihre Energie freisetzen, gehen Ionen wie ein scharfes Messer auf einem engen Strahlengang durch Oberflächengewebe und setzten ihre Energie erst dann frei, wenn sie fast zum Stillstand gekommen sind. Dieser sogenannte „Bragg-Effekt“ ermöglicht es, den Tumor genau ins Visier zu nehmen – ohne übermäßige Beschädigungen im umliegenden Gewebe. Anders als bei normalen Röntgenstrahl-Kanonen bewirkt die hohe Masse von Kohlenstoffionen eine hohe Rate an Doppelstrangbrüchen in der DNA des Zielgewebes. Wenn diese Brüche an gegenüberliegenden Stellen der Doppelhelix erfolgen, ist selbst ein effektives Reparatursystem der Tumorzelle kaum in der Lage, die einzelnen Informations-Puzzleteile wieder richtig zusammenzusetzen und ihr das Überleben zu ermöglichen. Ein schwerwiegender Vorteil der Ionenstrahlen liegt darin, dass sie auch dort Zellen zum Absterben bringen, wo andere Bestrahlungsmethoden versagen: in hypoxischen Regionen des Tumors. Viele Anti-Tumorwaffen benötigen die Hilfe von freien Sauerstoffradikalen, um tödliche Reaktionsmechanismen in der Zelle in Gang zu setzen. Daher sind Regionen mit geringem Sauerstoffgehalt oft strahlenresistent. An diesen Stellen wächst die Geschwulst nach der Behandlung dann am ehesten wieder aus. Die Präzision der Ionenstrahlung erlaubt den Strahlenmedizinern, die Dosis bei den Bestrahlungen zu erhöhen. Der Beschuss mit Kohlenstoffionen gestattet etwa ein Drittel höhere Dosen als Röntgenstrahlung, bei Protonen ist immerhin noch eine Steigerung von einem Fünftel möglich. Damit ergeben sich für den Patienten auch kürzere Zeiten, die er unter dem Gerät verbringen muss. Statt zehn bis zwanzig Sitzungen sind damit oft nur einige wenige Bestrahlungstermine notwendig.
In Heidelberg behandeln die Ärzte rund 750 Patienten im Jahr, der Ionenstrahl ist rund um die Uhr betriebsbereit und dient der Forschung, wenn kein Patient die Behandlungsliege besetzt. Das Besondere am HIT ist die bewegliche Strahlenquelle (Gantry). Das riesige Stahlgerüst mit einem Durchmesser von 13 Metern erlaubt eine Bestrahlung von allen Seiten und ebnet damit den Ionen – oder wahlweise auch Protonen – den optimalen Weg ins Zielgebiet. Zielgenauigkeit 1 mm, maximale Eindringtiefe 30 cm, sagt das Datenblatt der Anlage. Besonders Tumoren mit empfindlichem Gewebe in der Nachbarschaft kommen für diese aufwändige Bestrahlungstechnik infrage. Das sind vor allem solche im Kopf- und Halsbereich, aber auch solche, die weit weg von der Körperoberfläche liegen, wie etwa Prostata- und Leberzellkarzinome. Nach Heidelberg schicken Ärzte insbesondere krebskranke Kinder. Dabei spielt die hohe Erfolgsquote dieser Bestrahlungsart eine wichtige Rolle – aber ebenso auch die Tatsache, dass gesundes Gewebe bei der aufwändigen Strahlung kaum Schaden nimmt. Seltener als bei anderen Bestrahlungsarten kommt es damit zu Entwicklungsstörungen.
Dabei arbeiten die Entwickler schon intensiv daran, die Effizienz und Genauigkeit ihrer Strahlenkanone noch weiter zu erhöhen. Beim „Rasterscanning“ unterteilt der Rechner anhand eines exakten CT-Bilds den Tumor in etwa 1 mm große Scheiben. Je nach Lage dieser Abschnitte bekommt das Gewebe die Strahlen aus einer bestimmten Richtung mit genau definierter Energie ab. Ähnlich wie bei der intensitätsmodulierten Radiotherapie „füllen die Strahlen die Konturen des Tumors aus wie die Hand einen Handschuh“, beschreibt der technische Direktor der Anlage, Thomas Haberer, bildlich die Technik. Je nach den Bedürfnissen kommen nicht nur Protonen und Kohlenstoff zum Einsatz, sondern auch etwa Sauerstoff-, Helium- oder Lithium-Ionen, alle mit unterschiedlichen Charakteristika, was Energieabgabe, Eindringtiefe und Charakteristik des Strahlengangs betrifft. Gerade bei Tumoren mit einem Mischgewebe von bösartigen und gesunden Zellen können die Ärzte und Physiker die Zerstörungskraft großer Ionen gegen die feineren Waffen kleiner schneller Partikel abwägen und individuell einstellen.
Noch gibt es weltweit wenige Ionenstrahlanlagen und daher auch nur wenige Studien zur Wirkung im Vergleich zu herkömmlichen Methoden. In Japan liegt etwa die Erfolgsquote bei der Behandlung von rezidivierenden Rektumkarzinomen bei rund 90 Prozent. Dagegen erreicht eine Röntgenstrahltherapie nur 30 bis 70 Prozent. Dort untersuchen die Strahlentherapeuten zurzeit auch die Möglichkeiten, mit einer kombinierten Chemo- und Schwerionentherapie inoperable Pankreastumoren zu bekämpfen. Eine Studie soll außerdem klären, ob eine neoadjuvante Strahlentherapie für diese Tumorart Erfolg verspricht. Mit diesen vielversprechenden Perspektiven sind etliche neue Zentren in Planung oder kurz vor der Eröffnung. So soll in Österreich eine Anlage nach dem Heidelberger Muster im nächsten Jahr in den Routinebetrieb gehen, ebenso in Frankreich und China. Amerika hält sich zurzeit noch zurück, möchte aber mit einer neuen Technik der Schwerionentherapie zu geringeren Kosten, schnellerem Patientendurchsatz und damit zu weiterer Verbreitung verhelfen. Dabei sollen weniger Ionen ganz regelmäßig aus dem Beschleuniger kommen und damit den hohen Energieverbrauch der Anlage senken. Supraleitende Magnete erzeugen im Vergleich zu den bisher eingesetzten stärkere Felder und könnten damit die großen Ausmaße der Strahlführungstechnik deutlich verringern.
Dass nicht alles, was geplant und auch schon erreichtet wurde, unbedingt ein Erfolgsmodell ist, zeigt die Ionentherapieanlage in Marburg. Mit seiner Technik können nicht so viele Patienten behandelt werden, wie für einen ökonomischen Betrieb notwendig wären. Nachdem Siemens im letzten Jahr schon den Abbau des bereits im Probebetrieb laufenden Zentrums beantragt hatte, beschlossen vor einigen Wochen das Rhön-Klinikum und die Uniklinikum in Heidelberg, die Anlage an das bestehende Zentrum in Heidelberg anzugliedern und 2015 in den Regelbetrieb zu nehmen. Ähnliche Auslastungsprobleme sehen Kritiker auch für das österreichische Bestrahlungszentrum in Wiener Neustadt voraus, wo staatliche Stellen die Finanzierung übernommen haben. Die Ionenstrahltherapie ist teuer: Jährlich entstehen Betriebskosten von rund 15-20 Mio. Euro. Die Behandlungskosten für einen Patienten liegen damit bei über 20.000 Euro. Langfristig, so hoffen Strahlentherapeuten, wird etwa jeder zehnte Krebspatient vom Beschuss mit schweren Ionen profitieren. Jedoch sind auch komplizierte Tumoroperationen in direkter Nähe zu empfindlichen lebenswichtigen Organen in Bezug auf die Kosten sehr aufwändig. Für die Behandlung mit innovativen Anti-Tumor-Wirkstoffen kommen ebenso schnell einmal Beträge im fünfstelligen Bereich zusammen. Beim Know-how um den medizinischen Einsatz von Schwerionen steht Deutschland mit an der Weltspitze. Die Investition auch hoher Beträge könnte sich damit über längere Zeit hinweg lohnen.