Ein Erfolg auf ganzer Linie, die Zukunft des deutschen Gesundheitswesens: Das liest man zur neuen Digitalagentur und zur ePA. Wir haben uns bei euch umgehört, ob das stimmt – und deutliche Antworten bekommen.
Auf dem digitalen Auge ist man in Deutschland, wenn nicht blind, dann doch zumindest stark kurzsichtig. Das anschaulichste wie traditionsreichste Beispiel: Faxnummern für ganz eilige Angelegenheiten oder Praxissysteme, die mehr gegen- als miteinander kommunizieren. Als Sehhilfe für den Patienten Deutschland hat der digitalambitionierte Minister Lauterbach zwei Gesetze auf den Markt geworfen, die zumindest dem Namen nach Durchblick versprechen.
Bezeichnend jedoch bereits, in welcher Reihenfolge die Berliner Maßnahmen in Kraft treten: Erst werden die Anwendungen im Detail geregelt, dann erst Zuständigkeiten und Rahmenbedingungen geklärt – ein Meisterwerk deutschen Bürokratentums.
Ende 2023 wurde mit viel Tamtam das Digital-Gesetz (DigiG) vorgestellt, das den Weg für ePA, DiGA, telemedizinische Anwendungen und e-Rezept ebnen sollte. Grade als man in Berlin mit Schulterklopfen und Beglückwünschungen fertig war, schien dann aufzufallen, dass die Ärzteschaft mit Systemen arbeitet, bei der sich die Technik seit anno 1983 (MED, die erste deutsche Arztsoftware kommt auf den Markt) mehr in der schieren Masse denn ihrer Zuverlässigkeit verändert zu haben schien. Stand 2024: Mehr als 130 unterschiedliche Systeme stehen Ärzten derzeit zur Verfügung, um sich zu organisieren, miteinander zu kommunizieren und medizinische Daten zu verwalten. Also einfach die Qual der Wahl und los geht’s für Praxisinhaber? Nicht wirklich. Kommt es doch bei der Auswahl noch darauf an, wie groß die Praxis ist, welche Praxisform man betreibt, welcher Fachrichtung man angehört, welche Funktionen und Abrechnungsformen man bevorzugt, welche Schnittstellen man benötigt und vieles mehr.
Ist man dort erst einmal durchgestiegen, kommt im Alltag das böse Erwachen – die Systeme sind nicht kompatibel mit anderen PVS, hängen sich mitten in der Bearbeitung auf, die Verbindungen reißen ab oder einer von 404 technischen Fehlern tritt auf. Dazu kommt: Die Datenautobahn des Gesundheitswesens, die Telematikinfrastruktur, strotzt nur so vor Schlaglöchern. Allein im ersten Halbjahr 2024 ergänzten 59 überregionale Fehler- und Störungsmeldungen das ganz individuelle Digitalchaos. Besonderes Schmankerl: Der Arzt vor Ort weiß nur selten, warum es in der Praxis hakt, denn, „die Ursache von Softwarefehlern [kann] auch außerhalb der eigentlichen Praxissoftware, also beim Konnektor oder der Gematik liegen“, nennt eine Auswertung des ZI eine Fehlerquelle.
Keine Sekunde zu früh daher letzte Woche der nächste Berliner Coup: Das Gesundheits-Digitalagentur-Gesetz (GDAG). Worum es geht? Eine Digitalagentur für Gesundheit soll die viel gescholtene Interoperabilität der Systeme gewährleisten, bei der Entwicklung neuer Digitalprodukte Verantwortung übernehmen und Prozesse beschleunigen. Moment mal … kommt das nicht bekannt vor? Richtig. Da ist ja noch die Gematik, die eben genau das seit Jahren tun soll. De facto glänzte das BMG-Anhängsel seiner Zeit vor allem dadurch, dass es Ärzten Bußgelder bei versäumter Digitalisierung auferlegte – nicht grade ein Instrument, um Menschen zu einer totalen Umstrukturierung und neuen Arbeitsmodellen zu motivieren. Nun also die Selbsterkenntnis, dass grundlegende Fehler vielleicht wo anders lagen.
Mittel der Wahl, um eben jene Schlaglöcher zu schließen: Die Schaffung einer übermächtigen Institution, die von der Ausschreibung, Entwicklung, Verpflichtung von Anbietern, Maßnahmen zur Störungsbeseitigung, IT-Gefahrenabwehr alles an Kompetenzen an die Hand bekommt, um „die Aufholjagd in der Digitalisierung“ tatsächlich aufzunehmen. Und auch in Sachen Bußgelder ist man befugt – nun allerdings auch in Richtung der Hersteller, wenn diese ihre Systeme nicht allgemeinkompatibel konzipieren. Seitens des Hausärzteverbands kam derweil der Vorschlag auf, dass Anbieter der TI bei entsprechenden Ausfällen haften und zu Schadensersatz angehalten werden.
Wie nötig es ist, den digitalen Nachholbedarf ernst zu nehmen, zeigt auch die Diskrepanz zwischen Zielen und Realität. Während Anfang 2025 bereits die elektronische Patientenakte zwangseingeführt werden soll, nutzen lediglich 7 % der Praxen und 3 % der Krankenhäuser und volle 0 % der Apotheken und psych. Praxen intensiv TI-Anwendungen. Im Gegenteil: 12 % der Praxen, 9 % der Apotheken, 65 % der Kliniken und 89 % der psych. Praxen verzichten gänzlich. On Top scheint die Technik den Skeptikern Recht zu geben: So nimmt die Stabilität der Leitungen gar ab. Liefen 2023 noch 68 % der Anwendungen in Kliniken stabil, waren es 2024 nur noch 64 %. Ein ähnliches Bild lieferten Praxen (63 % zu heute 56 %), Apotheken (80 % zu heute 68 %) und psych. Praxen (51 % zu heute 48 %). In Schulnoten spräche man in manchen Regionen mindestens von einem glatten „mangelhaft“.
Anstatt nachzusitzen oder die Digitalisierungsklasse zu wiederholen, soll 2025 nun ein Standard in der medizinischen Versorgung eingeführt werden, der mehr Raketenwissenschaft als Einmaleins ist: Die elektronischen Patientenakte, dem Herzstück Lauterbachscher Digitalvorstellungen. Die ärztlichen Meinungen hierzu gehen jedoch weit auseinander, wie wir in einer Umfrage unter euch erheben konnten. Wir hätten da diejenigen, die vom Konzept überzeugt sind und die ePA bereits nutzen oder im Begriff der Umsetzung sind:
„Endlich Digitalisierung! Selbst, wenn es am Anfang sicherlich an manchen Stellen noch knirschen wird; die Richtung stimmt und muss noch konsequenter verfolgt werden!“
„Wir brauchen die Digitalisierung und da sie nicht freiwillig vollzogen wird, muss sie zwangsweise durchgesetzt werden.“
„Hätte spätestens vor 10 Jahren bereits Realität sein müssen.“
„In manchen Fällen sicher hilfreich.“
„Die ePA ist zwingend notwendig, allerdings muss sie durchdacht sein.“
Daneben gibt es Zweifler, die mit mehr Skepsis als Vertrauen an die Sache rangehen:
„Zeit- und kostenintensiv. Habe jetzt schon keine Personal- und Zeitreserven mehr.“
„Bei der Umsetzung wird es knallen – wie beim E-Rezept.“
„Überfällige Digitalisierung, aber völlig unprofessionell als PDF-Sammlung. Mehr Aufwand, unübersichtlich, chaotisch.“
„Grundsätzlich überfällig, über die Art der Umsetzung lässt sich streiten.“
„Längst überfällig, aber die Umsetzung wird von lauter faulen Kompromissen geprägt sein.“
„Solange bei Daten- oder Stromausfall die Krisensicherheit gewährleistet werden kann, passt es.“
Zu guter Letzt erreichten uns Kommentare von Medizinern, die diese Digitalisierung strikt ablehnten und die Pläne zur ePA wie folgt kommentierten:
„Die Datenkraken freuts, der verantwortliche Mediziner verlässt sich lieber auf seine eigene Diagnose.“
„Mehrarbeit, wenig Arbeitserleichterung, Computer sind störanfällige Systeme, Papier und Stift nicht.“
„Ein undurchdachter und falsch konzipierter Fehlschuss. Die aktuelle ePA ist unbrauchbar als Arbeitsmittel und eine Gefährdung von Arztpraxen und Datensicherheit der Patienten.“
„Undurchdachter Schnellschuss!“
„Unstrukturierter Müll.“
„Mist und Schwachsinn.“
„Reine Gängelei.“
So nachvollziehbar die Bedenken sind – allein vor dem Hintergrund der bisherigen (Nicht)Entwicklung, so deutlich spiegelt auch die kategorische Ablehnung ärztlicherseits, dass die Digitalisierung der Praxen nicht allein an gesetzlichen Vorgaben und Berliner Institutionen hängt. Die in Teilen mangelnde Bereitschaft zur Umstellung ärztlicherseits wurde dabei zuletzt auch statistisch begründet. So gaben im Rahmen einer Umfrage nur 8 % der Mediziner an, dass die Digitalisierung ärztliche Interessen berücksichtige. Mehr als 50 % befürchten darin, dass Digitalisierung eine „Übertragung marktwirtschaftlicher Interessen in die Medizin“ bedeute. 72 % gaben an, dass Digitalisierung einen erhöhten Dokumentationsaufwand bedeute. Gleichzeitig sind nur 4 % im Klaren darüber, welche Daten wo und wann gespeichert würden.
„Letztlich wird die überfällig digitale Transformation des Gesundheitssektors nur funktionieren, wenn das Plattform-Ökosystem der Telematikinfrastruktur auf allen Seiten das notwendige Vertrauen genießt und alle Beteiligten konstruktiv an der Weiterentwicklung mitarbeiten. […] Bei aller berechtigten Kritik kann die Lösung nicht in einer mehr oder weniger passiv aggressiven Blockadehaltung bestehen“, resümiert Dr. Peter Gocke, Chief Digital Officer (CDO) der Berliner Charité.
Und doch muss es darum gehen, dass man in Berlin einen klaren Blick für die Zukunft habe. Allein in Sachen Finanzierung der neuen Behörde und all der neuen Strukturen, Aufgaben und Personalia muss man die Stirn wieder runzeln, wenn von Krankenkassenseite auf die steigenden Kosten hingewiesen wird und zeitgleich das Bundesministerium auf DocCheck-Anfrage ausgibt, dass „es aber bei der bestehenden Finanzierung gemäß § 316 Absatz 1 SGB V [verbleibt], so dass es insoweit keine Änderungen der Kosten- und Finanzierungsstruktur geben wird.“
Bildquelle: Erstellt mit Midjourney.