Mit stolzen Schritten gehen die Krankenkassen auf die 20-Prozent-Beitragsmarke zu – lange ein politisches No-Go. Doch wer ist wirklich Schuld daran, dass sie uns bald noch mehr Geld aus den Taschen ziehen? Bürgergeldempfänger? Die Klinikreform?
Für Eilige gibt’s am Ende des Artikels eine Zusammenfassung.
314 Milliarden Euro lassen wir Deutschen uns unsere Gesundheit derzeit kosten – so viel wie kein anderes europäisches Land. Dennoch: Niedergelassene Ärzte kommen kaum über die Runden, Apotheken schließen und die Krankenkassen pfeifen auf dem letzten Loch. Als besonderes Schmankerl erwartet uns Deutsche dafür aber eine der niedrigsten Lebenserwartungen aller westlichen Länder.
Fest steht, Stand heute, dass selbst das Worst-Case-Szenario noch ein paar Jahre in der Zukunft liegen dürfte. Derzeit steht man auf Kassenseite bei einem allgemeinen Beitragssatz von 14,6 % sowie dem vom Schätzerkreis für 2024 anberaumten Zusatzbeitragssatz von 1,7 % – doch das reicht hinten und vorne nicht. Erst vor Kurzem hat eine Reihe von Krankenkassen unterjährig ihren Zusatzbeitrag erhöht, um irgendwie Herr über das Ausgabenfiasko zu werden, das ihnen teils aus Berlin aufgedrückt wird. Die BKKen sowie die IKK erhöhten ihren Satz auf 2,2 bis 2,55 %. Es folgten vergangene Woche die KKH, deren Versicherte mit 3,28 % leben müssen sowie die Knappschaft, die von 2,2 auf 2,7 % erhöhte.
Und auch Deutschlands größte gesetzliche Krankenkasse, die Techniker Krankenkasse, veröffentlichte in ihrer Jahresrechnung für 2023 ein Minus von rund 800 Millionen Euro. Der Ursache kommt man näher, wenn man die Zahlen betrachtet: Einerseits geht die Differenz von Einnahmen (39,2 Milliarden Euro) und Ausgaben (40 Milliarden) fast vollständig (717 Millionen Euro) auf Sonderzahlungen an den Gesundheitsfonds zurück. Andererseits jonglieren die GKVen mit stark steigenden Ausgaben, insbesondere in Sachen Medikamente, Krankenhausaufenthalte und vertragsärztliche Behandlungen. Die eigenen Verwaltungskosten konnte die TK beispielsweise um 200 Millionen Euro senken.
Jens Baas, TK-Vorstandsvorsitzender
Der GKV-Spitzenverband bringt es gegenüber DocCheck auf den Punkt: „Perspektivisch steht einer Einnahmenentwicklung von + 4,4 % eine Ausgabenentwicklung von + 5 bis + 5,5 % gegenüber – und das ohne die Berücksichtigung gesetzlich induzierter Mehrausgaben. Dazu kommt, dass die monatlichen Mehrausgaben kontinuierlich die GKV-Reserven aufbrauchen. So wird der erhöhte Finanzbedarf für 2025 bei schätzungsweise 0,5 bis 0,6 Prozentpunkten liegen.“ Sollte sich an der Entwicklung zudem nichts ändern, sieht der TK-Vorstandsvorsitzende Jens Baas eine bis dato unantastbare Marke in Gefahr: „Wir bewegen uns bis zum Ende des Jahrzehnts ungebremst auf einen Beitragssatz von 20 Prozent zu – wenn es keine Gegenmaßnahmen gibt. [...] Das galt vor ein paar Jahren noch als eine völlig abstruse Größenordnung.“
So weit, so schlecht die Nachrichten, die allerdings auch nicht brandaktuell sind – liegen doch schon seit Langem Lösungsvorschläge dazu auf den Tischen der Ampel-Regierung. Verhältnismäßig neu und ebenso finanzkatastrophal sind jüngere politische Entwicklungen, wonach die gesetzlichen Kassen strukturelle Maßnahmen für die Gesamtbevölkerung mittragen müssen.
Die AOK-Vorstandsvorsitzende Carola Reimann verrät DocCheck was die Kassen zusätzlich belastet: „Leider öffnet Minister Lauterbach mit seiner Gesetzgebung alle Ausgabenschleusen:
werden zusätzliche Kosten für die GKV in Milliardenhöhe verursachen, ohne dass dem ein adäquater Mehrwert für Versicherte und Arbeitgebende sowie Patienten gegenübersteht. So ist beispielsweise die Förderung des Wirtschaftsstandortes mittels geheimer Arzneimittelpreise keine Aufgabe der GKV. Und die Finanzierung der Krankenhaus-Investitionskosten gehört ganz klar in den Zuständigkeitsbereich von Bund und Ländern. Diese Kosten dürfen nicht bei den Beitragszahlenden abgeladen werden.“
Weshalb man es von Seiten des BMG als sinnvoll erachtet, Strukturreformen, die das gesamte Land betreffen, von einem Teil der Bevölkerung zahlen zu lassen, wollte den DocCheck News auf mehrfache Anfrage bis Redaktionsschluss niemand beantworten. Gesichert ist hingegen – auch durch eine IGeS-Studie untermauert, dass die Aufbürdung der Krankenhausreform-Kosten rechtswidrig ist.
Dazu kommt, dass der Bund nicht bzw. nur in begrenztem Maß (zu einem Drittel) für die Versicherungskosten der Bürgergeldbeziehenden aufkommt. „Daraus resultiert eine Unterfinanzierung von 9,2 Milliarden Euro. Das wären 0,5 Beitragssatzpunkte. Der Bund muss seiner Verantwortung für bislang von den Krankenkassen getragene gesamtgesellschaftliche Aufgaben gerecht werden, Stichwort kostendeckende Beiträge für Bürgergeldbeziehende, Dynamisierung der Bundesbeteiligung für familienpolitische Leistungen“, so der GKV-Spitzenverband.
Es beschleicht einen schon zum Zwischenfazit, dass die chronisch klammen Kassen vor Problemen stehen, die kaum mehr zu heben sind ohne die Beitragszahler weiter zur Kasse zu bitten. Auf der Habenseite für Versicherte zumindest: Das Statement von Bundeskanzler Olaf Scholz zu ausbleibenden Leistungsstreichungen: „Was für mich nicht infrage kommt, sage ich ganz klar, sind Leistungskürzungen für die Versicherten.“ Viel eher sollen alle im System beteiligten Akteure und Prozesse effizienzoptimiert werden. Wer kennt sie nicht, die deutsche Tugend der Effizienzsteigerung – in bürokratischen oder gar digitalen Angelegenheiten.
Wischt man sich die Freudentränen wieder aus dem Gesicht, erkennt man schnell: Das ist ernst gemeint aus Berlin. Um so nötiger, hier einen Einblick zu erhalten. Doch auch hier sah sich das BMG auf Anfrage leider nicht genötigt, bis Redaktionsschluss Auskunft zu geben. Bleibt ein Blick in die aktuellen Gesetze mit ihren avisierten Effizienzmaßnahmen: In erster Linie handelt es sich dabei um Digitalisierungsoptionen a la ePA und eRezept. In zweiter Linie sollen straffere Strukturen (= weniger Kliniken) auch die Kosten senken. Reimann dazu: „Bei vielen Gesetzesentwürfen, die in den letzten Monaten vorgelegt wurden, haben wir uns über angebliche Einsparpotenziale gewundert, die nicht nachvollziehbar sind.“
Wie viel Anteil am Erfolg die Krankenhausreform haben wird, hat die BKK für uns eingeschätzt: „Im Krankenhausbereich lassen sich Effizienzreserven nur dann heben, wenn Krankenhausstrukturen dauerhaft abgebaut und Leistungen ambulantisiert werden und damit die Kosten und die Anzahl der stationären Kapazitäten und Fälle sinken. Es ist nicht erkennbar, wie dies mit den derzeitigen Reformideen erreicht werden kann.“ Auch die Ärzteschaft ist sich einig, dass so kein Blumentopf zu gewinnen ist. KBV-Chef Gassen dazu: „Die jetzt von der Bundesregierung geplanten Gesetze werden leider nicht für die vom Kanzler geforderte Effizienz im Gesundheitswesen sorgen. Statt die ambulante Versorgung zu stärken, werden wohl ungezielt weitere Milliarden in die Krankenhäuser gepumpt.“
Unterdessen scheint man aus den Vorschlägen der Kassen in Berlin Papierflieger gebaut zu haben. Neben der angeprangerten Beteiligung an der Krankenhausreform und der kostendeckenden Finanzierung der Bürgergeldbezieher gibt es noch weiteres Einsparpotenzial: „Eine Dynamisierung entsprechend der zukünftig für die versicherungsfremden Leistungen eintretenden Kostensteigerungen würde zumindest für diesen Bereich künftige Zusatzbelastungen der Versichertengemeinschaft kompensieren. Sinnvoll wäre auch, den Mehrwertsteuersatz auf Arzneimittel von 19 auf 7 % zu senken, wie es in fast alles EU-Ländern üblich ist. Arzneimittel sind schließlich kein Luxusgut. Eine weitere Maßnahme im Arzneimittelbereich könnte außerdem die Anhebung der Herstellerabschläge für pharmazeutische Unternehmer sein“, ergänzt die BKK. Konkretes hätte auch der GKV-Spitzenverband im Angebot – so könne man die DiGA-Preisbildung wirtschaftlich gestalten oder fehlerhafte Krankenhausrechnungen nicht länger honorieren.
Unterdessen ist man an anderer Stelle bereits de facto mitten in den Leistungskürzungen. Dr. Hans-Peter Hubmann, Vorsitzender des Deutschen Apothekerverbandes (DAV) über das Versprechen des Kanzlers angesichts mauer Finanzen: „In den vergangenen zehn Jahren ist die Apothekenzahl um fast 20 Prozent gesunken. Schon jetzt erfahren die Menschen in manchen Landesteilen Leistungskürzungen, weil sie längere Wege zur nächsten Apotheke zurücklegen müssen. […] [Auch], dass in den Apotheken nur noch selten Apotheker und Apothekerinnen anwesend sind, führt zwangsläufig dazu, dass zahlreiche Leistungen gestrichen werden müssen.“
Dr. Hans-Peter Hubmann, DAV-Vorsitzender
Scholz Antwort auf das Dilemma: „Wir müssen die Zahl der Beschäftigten hoch halten, insbesondere die, die Sozialversicherungsbeiträge zahlen. Das garantiert die Finanzierungsstabilität unseres Wohlfahrtsstaates und unserer sozialen Sicherungssysteme.“
Moritz Völker, Vorsitzender Junge Ärztinnen und Ärzte im Hartmannbund, scheint nur mangelhaftes Vertrauen in den Ansatz zu haben und geht vom Gegenteil aus: „Die Wahrheit ist: Wir werden Leistungen kürzen. Und das, wo wir erst am Beginn richtig kostenintensiver Therapien stehen, die ihren Weg in die Regelversorgung finden werden.“
Unterm Strich bliebe bei diesem Modell – sofern die Zwangs-ePA ab 2025 und der einsetzende Umbau der Kliniklandschaft nicht absolute Erfolgsprojekte werden: Steigende Kosten und Ausgaben bei allen Kassen, daraus resultierende einzigartig hohe Beitragssteigerungen und gleichzeitiger Leistungsabfall auf allen Ebenen.
Wäre die Zuversicht nicht bereits durch Fragen der Bildung, Verteidigung, Umwelt und Infrastruktur höchst strapaziert, könnte man sich frohen Mutes in Digitalisierungs- und Optimierungsprozesse des Gesundheitswesens werfen – mit dem Wissen, dass es ja anderswo auch läuft. So allerdings scheint ein Filmzitat nahezu prophetisch zu werden: „Ich habe da ein ganz mieses Gefühl.“
Bildquelle: erstellt mit Midjourney