TEIL 1 | In Deutschland herrscht Ärztemangel. Doch immer mehr junge Ärzte wechseln in die Teilzeit oder wandern aus. Ist das Generationsfaulheit – oder gibt es einen Fehler im System? Junge Assistenzärzte berichten.
Die Stimmung an den Kliniken ist bedrückt. Immer mehr Ärzte wandern aus oder möchten in Teilzeit wechseln. Das ist ein Problem für das deutsche Gesundheitssystem – vor allem, wenn die Generation der „Babyboomer“ bald in Rente geht. Wir haben Assistenten aus verschiedenen Kliniken in Deutschland nach ihren Arbeitsbedingungen befragt, und sie hatten einiges zu berichten. Mitunter schlucken sie ihren Frust still herunter, überlegen sich, wohin sie wechseln könnten und wie sie ihre Arbeit ein ganzes Berufsleben gesund meistern sollen.
Vor allem kristallisierten sich aus den Einsendungen an DocCheck vier übergeordnete Themen heraus, die die Assistenzärzte umtreiben:
Im ersten Teil des Berichts stellen wir euch ihre Eindrücke zu den ersten beiden Themen vor. Es berichten Laura, Raoul, Norbert, Richard, Neele und Zera. Die Namen wurden von der Redaktion geändert. Wir geben ihre Schilderungen in Auszügen wieder – zum großen Teil stimmen die Aussagen aber an allen Kliniken überein.
Neele ist Assistenzärztin der Unfallchirurgie an einer Klinik. Sie erzählt DocCheck: „In der Unfallchirurgie ist der grundlegende Arbeitsvertrag auf dem Papier bei über 40 Stunden – ich meine 43 oder 45. […] [Eine] Woche mit 55 Stunden [war] aber purer Luxus, alle 2–3 Wochen erwartete mich eine 80–90 Stundenwoche. Das ist ein Fakt, den ich persönlich tragisch finde und der mich sehr wütend gemacht hat – gerade als Berufseinsteiger raubt diese Menge an Arbeitsstunden (inkl. Nachtdienste!) einem jegliche körperliche Energie.“
Sie führt weiter aus: „Die Menge an Arbeitszeit (eigentlich ständig 70–80 Stunden) ist das energieraubende, genauso wie die Arbeitsdichte und Stressintensität im Alltag. Es ist purer Luxus, Zeit zu haben auf Toilette zu gehen, zu essen – man bekommt auch gerne mal einen doofen Spruch vom Chef, wenn man Mittagessen geht, und Zeit dafür, Leitlinienbehandlung oder anderes nachzuschauen, existiert nicht. Ich glaube, dass es wenige Jobs gibt, in denen die Menschen in solch einem Funktionsmodus arbeiten und so getaktet mit einem so hohen Stresslevel.“
Neele wechselte in die Psychosomatik. „Dort habe ich eine geregelte 40-Stunden-Woche und nur manchmal, weil ich freiwillig Dienste mache, maximal eine 60-Stunden-Woche. Ich bin ausgeglichen, habe auf der Arbeit Zeit Medikation und Leitlinien nachzuschauen und habe durch den ausgeglichenen Alltag sehr viel Interesse, über mein Fach nachzulesen und mich weiterzubilden. Ich wünschte allen diese Umstände.“
Laura hat ihre Assistenzarztzeit in der plastischen Chirurgie an einem Universitätsklinikum begonnen. „Wir arbeiten alle über 60 Stunden pro Woche. In schlimmen Phasen habe ich 95 Stunden pro Woche gearbeitet. […] Es ist nicht so, dass wir uns unser Leben nicht leisten können. Es ist so, dass wir unser Leben nicht genießen können.“ Ein Teilzeitmodell ist bei Laura nicht möglich. Zera, Assistenzärztin in der Ophthalmologie an einem Maximalversorger, spricht auch das Thema Teilzeit an: „Ich bin bereit Vollzeit zu arbeiten! Nur meine Vollzeitstelle ist keine 40-Stunden-Woche und auch keine 50-Stunden-Woche, sondern eigentlich immer 60 [Stunden] plus.“ Viele Assistenten berichten, dass Kollegen in Teilzeit wechseln, damit sie in real dann eben doch auf die 40–45 Stunden pro Woche kommen.
Verträge werden teilweise sehr unterschiedlich gehandhabt – beziehungsweise die Kommunikation über die Chefärzte und die Buchhaltung der Kliniken. Assistentin Laura berichtet: „Wir kriegen für den gesamten Ausbildungszeitraum bis zur Facharztprüfung Verträge, das ist nicht selbstverständlich.“ Nobert, der an einem Universitätsklinikum arbeitet, hat weniger Glück. „Wir kriegen nur Zeitverträge […]. Teilweise dauern die Verträge nur sechs Monate. Die werden zwar andauernd verlängert, das wird einem auch zugesichert […], aber gerade, wenn man Familie hat wie ich […], dann ist es natürlich schon unangenehm, wenn man formal schriftlich nur Kurzzeitverträge hat. Dieses Versprechen, dass sie verlängert werden, das gibt einem der Chef. Das wird in der Regel auch eingehalten. Aber irgendwo ist man da doch von der Gunst des Chefs abhängig.“
Ein weiteres Thema sind Opt-Out-Verträge. Sie ermöglichen es den Krankenhäusern, dass Ärzte über die gesetzlichen Höchstgrenzen von werktäglich acht Stunden beziehungsweise 48 Stunden pro Woche hinaus arbeiten. Laura erzählt: „Was ich bei der Einstellung eher unangenehm fand, war, dass man mit seinem Vertrag auch alle anderen Unterlagen kriegt und das Opt-Out unterschreiben soll, […] als würde es zum Vertrag dazu gehören. […] Und als ich das dann nicht unterschreiben wollte, wurde mit mir in der Personalabteilung diskutiert. […] Und nach einem halben Jahr ist das dann einer der Oberärztinnen […] aufgefallen, woraufhin ich zwei unangenehme Verhör-gespräche mit ihr hatte.“ Unterschrieben hat sie den Vertrag nicht – trotz mahnender Blicke.
Raoul, der zuvor in der Chirurgie in der Schweiz war, und nun in einem anderen Fachgebiet in einer Praxis in Deutschland arbeitet, ist wütend: „Das finde ich wirklich ein Unding – dass sowas überhaupt so weit verbreitet ist, dass viele Ärzte überhaupt keine Chance haben reinzukommen, wenn sie sich weigern, ein Opt-Out zu unterschreiben.“ Bei Richard, der an einem kleineren Krankenhaus in der Inneren Medizin tätig ist, sieht es anders aus. „Wir haben auch den Opt-Out-Vertrag unterschrieben – den wir gar nicht hätten unterschreiben müssen. Es ist bei uns nicht mal so, dass unser Chef darauf pocht. […] Man kann auch immer zurücktreten. Ich muss sagen, ich habe es trotzdem nicht gemacht. […] Bei uns hat man intern gesehen, dass das gar nicht so einen Unterschied macht, von Seiten der Assistenzärzte.“
Auch das Thema der Dienste wird von den Assistenten angesprochen. Laura erzählt: „Die Dienste werden nicht als 100-Prozent-Dienste gewertet, sondern von 22 bis 7 Uhr sind wir quasi in Bereitschaft – was nicht der Realität entspricht. […] Im Zweifel operieren wir durch […]. Und dadurch sammeln wir unter der Woche sogar Minusstunden durch unsere Dienste. […] Es kann eigentlich nicht sein, dass man arbeitet und dadurch Minusstunden sammelt. […] Wir kriegen für unsere Wochenenddienste auch keine Ausgleichstage unter der Woche, das heißt, man arbeitet einfach durch. Das ist langfristig auch einfach körperlich schwer zu tragen.“
Auch Norbert kennt das Problem: „Die Nachtdienste in der Rettungsstelle werden zwar vergütet, aber es wird nur die Hälfte der Stunden auf das Zeitkonto aufgeschrieben […] Das heißt: Nach jedem Nachtdienst machen wir 9 Minusstunden.“ Bei Richard ist es erfreulicherweise etwas anders. „Wir haben [einen] Freizeitausgleich und können uns fast alle Überstunden aufschreiben.“ Im Gegensatz zu den anderen sind seine Dienste außerdem doppelt besetzt. Auch Neele sieht einige positive Aspekte in ihrem Haus: „Wir waren im Nachtdienst sogar zu zweit. Ich hatte viel Glück, dass die allgemeinchirurgischen Kollegen deutlich berufserfahrener waren und für Fragen zur Seite stehen. Ohne diese Gewähr wären mir viel mehr Fehler passiert.“
Zera fasst zusammen: „In einer perfekten Welt, wo alle da sind, wirklich nur zwei wegen Urlaub oder überstundenfrei oder dienstfrei […] fehlen, keiner sich krankmeldet und keine Notfälle kommen, ist alles in Ordnung. Dann hält man seine vereinbarte 45-Stunden-Woche […] ein. […] Was das Gesundheitssystem aber nicht zulässt, ist die Unberechenbarkeit der Medizin.“
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