Eine 14-Jährige sitzt kaugummikauend mit ihrer aufgeregten Mutter in meiner Sprechstunde. Der Teenie ist sichtlich genervt – immerhin geht’s um ihren Durchfall. Wie ich mich durch das Gespräch manövriere und was letztlich die Ursache ist, lest ihr hier.
„Maja hat immer Bauchschmerzen und Durchfälle.“ Eine Mutter ist mit ihrer 14-jährigen Tochter bei mir in der Sprechstunde, außerdem hat sie einen Termin zur Blutentnahme. Als ihre Mutter von den Durchfällen berichtet, senkt Maja den Kopf und verdreht genervt die Augen. Jugendliche reden bekanntlich nicht so gerne über ihre Ausscheidungen.
„Nicht immer!“, wirft das sportliche Mädchen mit den weiten Klamotten kaugummikauend ein, lehnt sich nach vorne, stützt die Ellenbogen auf ihre Knie und schaut nach unten.
„Aber oft!“, entgegnet die Mutter. „Jetzt sei doch nicht so …“ Maja schnauft und macht genervt eine gigantische Kaugummi-Blase.
„Und den scheiß Kaugummi hättest du heute mal weglassen können“, zischt die Mutter noch leise hinterher.
Ich hake an dieser Stelle ein. „Wie oft hast du denn Bauchschmerzen?“
„Alle paar Tage mal.“
„JEDEN Tag!“, unterbricht die Mutter.
„Und immer mit Durchfällen? Oder Blähungen?“
„Blähungen …“, das Mädchen wird rot.
„Leg dich doch mal auf die Liege“, bitte ich sie. „Und übrigens kann ich über Stuhlgang sprechen und dabei Mittag essen“, sage ich ihr lachend. „Das ist mein täglich Brot.“
Das Mädchen guckt etwas angeekelt.
„Also nicht der Stuhlgang ist mein täglich Brot, aber du verstehst schon, was ich meine.“
Jetzt muss sie lachen. Mein Sohn hätte mir aufgrund des schlechten Witzes wahrscheinlich mitleidig die Schulter getätschelt.
Maja legt sich etwas angespannt auf die Liege, aber ohne die typischen Zeichen von starken Bauchschmerzen. Diese erkennt man oft schon am Verhalten der Patienten, wenn sie sich gekrümmt hinlegen, die Beine anziehen oder die Hände auf den Bauch legen. Nun vermute ich bei Maja kein akutes Abdomen, das ergibt sich schon aus der Anamnese nicht. Salopp gesagt: Sie leidet zu wenig, um einen akuten Bauch zu haben. Dennoch bringt die oft so vernachlässigte körperliche Untersuchung bereits wichtige Hinweise auf ernste Erkrankungen und kann auch durch apparative Medizin nicht ergänzt, sondern komplettiert werden.
Als erstes zücke ich das Stethoskop und höre alle vier Quadranten von Majas Bauch ab: es gluckert reichlich, aber beständig. Das ist wichtig, denn sowohl Totenstille als auch spritzende Darmgeräusche (vor allem neben einem totenstillen Quadranten) sind als ernst einzustufen.
Der Bauch meiner Patientin ist bei der Palpation weich. Ich kann keine Verhärtungen, Abwehrspannung oder Vergrößerung von Leber und Milz tasten, außerdem hat sie keine Schmerzen bei der Untersuchung.
„Bisher ist bei der Untersuchung alles bestens“, erkläre ich Mutter und Tochter. „Kommen die Bauchschmerzen denn vermehrt nach dem Essen vor oder wenn du Hunger hast? Oder vor der Schule?“ Auch psychosomatische Ursachen muss man in Betracht ziehen.
Die Mutter springt ein: „Wir können keinen Grund finden. In die Schule geht sie gerne.“
„Und isst du viel Obst oder trinkst du viel Milch?“, frage ich weiter.
„Obst wenig“, sagt die Mutter, da schnappt Maja nach Luft. „Was? Ich liebe Obst. Ich esse ständig Obst!“
„Hm, möglicherweise handelt es sich um eine Unverträglichkeit von Fruchtzucker oder Sorbit, beides kommt viel in Obst vor. Ich überweise dich mal zu der Gastroenterologie, also zum Facharzt für Magen-Darm-Erkrankungen, und dort kann man einen Atemtest machen, um eine Fruktose- oder Sorbit-Intoleranz festzustellen.“
Dass Kaugummis in den meisten Fällen auch Sorbit enthalten, verschweige ich heute erst einmal, damit Maja nicht wieder angezischt wird. Aber ich nehme mir vor – unabhängig vom Testergebnis – das Thema anzusprechen, denn zuckerfreie Kaugummis können auch bei Menschen ohne Sorbit-Unverträglichkeit zu Beschwerden führen.
Den Atemtest kann man bei Verdacht auf eine Laktose-, eine Fruktose oder eine Sorbitunverträglichkeit durchführen. Hierbei bekommen die Patienten eine Flüssigkeit mit der definierten Menge des speziellen Zuckers (Laktose/Fruktose) oder des Zuckeralkohols (Sorbit) zugeführt. Durch die Verstoffwechselung im Darm wird Wasserstoff gebildet, der abgeatmet wird. Ist die Menge zu hoch, spricht dies für eine Intoleranz, weil die Kohlenhydrate in den Dickdarm gelangen und dort von Bakterien abgebaut werden.
Einige Wochen später – so lange dauert es leider inzwischen, um an einen Facharzttermin zu gelangen – habe ich das Ergebnis in den Händen. Meine junge Patientin leidet an Unverträglichkeiten von Sorbitol und Fruktose.
Ich habe es oben bereits erwähnt: Sorbit ist ein Zuckeralkohol, also ein Kohlenhydrat mit einer zusätzlichen chemischen „OH-Gruppe“, aber ohne die typische berauschende Wirkung. Sorbit, auch Sorbitol genannt, wird im Dünndarm zu Fruktose abgebaut und in der Leber verstoffwechselt. In natürlicher Form kommt es in Früchten und vor allem in Trockenobst vor, aber auch in Diabetiker-Produkten wird es häufig eingesetzt – und in Kaugummis. In 80–90 % der Fälle ist die Sorbitol-Intoleranz mit einer Unverträglichkeit anderer Kohlenhydrate vergesellschaftet, meistens ist Fruchtzucker der Übeltäter. Die Symptome sind die typischen, die auch Maja zeigt: Nach dem Genuss von Sorbit kommt es zu Blähungen, Bauchschmerzen und Diarrhoen.
Maja hat am nächsten Tag einen Besprechungstermin und wieder sitzt sie kaugummikauend vor mir. Ich erkläre den beiden das Ergebnis des Tests und die Mutter ist leicht erschüttert. „Dann müssen wir ja alles umstellen! Ich habe schon mal nachgelesen, Sorbit ist ja Ü-BER-ALL drin!“
Ich hake ein: „Nein, nicht überall. Sie müssen sich umstellen, das ist richtig, aber es gibt gute Listen, anhand derer man den Sorbitgehalt feststellen kann. Und auch bei einer Fruktoseintoleranz verträgt man oft kleinere Mengen Obst, solange sie nicht zu reif und zu süß sind und vor allem alle zum gleichen Zeitpunkt gegessen werden. Tasten Sie sich ran, welche Obstsorten funktionieren. Oft sind Beeren verträglich oder nicht zu süße Äpfel. Und noch ein kleiner Tipp, Maja“, ich wende mich an die Jugendliche, „schaue mal bei deinen Kaugummis auf die Zutaten. Oft sind sie mit Sorbit gesüßt. Zu viel Kaugummi verursacht dann auch Blähungen.“
Maja schaut etwas erstaunt, zieht ihr Kaugummipäckchen aus der Tasche und liest sich die Angaben durch. Die Mutter nutzt die Gunst der Stunde und schimpft: „Ich wusste es! Du und deine Kaugummis!“
„Das ist sicher nicht der einzige Grund!“, verteidige ich die Jugendliche. „Sonst wäre der Test ja schließlich nicht positiv ausgefallen.“
Ich war auch so eine dauerhaft Kaugummi kauende Jugendliche. Ob mit oder ohne Blähungen weiß ich nach fast 30 Jahren allerdings nicht mehr.
Bildquelle: erstellt mit DALL.E