Die Beeinflussung ärztlicher Diagnosen durch gesetzliche Krankenversicherungen ist verboten. Trotzdem erhalten Ärzte weiterhin Vorschläge zur Kodierung von Diagnosen. Zu diesem Ergebnis kommen Versorgungsforscher im Rahmen einer anonymen Befragung.
In Deutschland können gesetzlich Versicherte ihre Krankenkasse frei wählen. Das zieht gesundheitsökonomische Probleme nach sich: Die Krankheitslast (Morbidität) innerhalb einzelner Gruppen von Versicherten unterscheidet sich zum Teil erheblich. Dies berücksichtigt der Gesetzgeber über einen Risikostrukturausgleich: Gesetzliche Krankenversicherungen (GKVen) mit einer „guten“ Risikostruktur leisten Ausgleichszahlungen an Kassen mit einer „schlechten“ Risikostruktur. Bislang sind es 80 Krankheiten, für die die Krankenkassen einen besonderen Zuschuss erhalten und die daher auch für Diagnosebeeinflussungen besonders interessant sind. Das kommt nicht gerade selten vor, wie eine anonyme Befragung zeigt. Diese lief wie folgt:
Zwischen dem 31. August und dem 20. Oktober 2017 nahmen 1.000 Allgemeinmediziner, praktische Ärzte und Internisten ohne Schwerpunkt an einer von DocCheck Research durchgeführten anonymen Online-Befragung teil. Die Stichprobenziehung erfolgte per Zufallsauswahl aus dem DocCheck Online Panel, die erhobenen Daten wurden anschließend vom Wissenschaftlichen Institut für Gesundheitsökonomie und Gesundheitssystemforschung Leipzig ausgewertet. 820 (82,0 Prozent) aller Kollegen bekamen seit Einführung des morbiditätsorientierten Risikosturkturausgleichs (Morbi-RSA) Anfang 2009 Vorschläge zur Diagnosekodierung von GKVen. Auf Deutschland hochgerechnet, entspricht das mehr als 48.000 Ärzten. Anfang 2017 folgte das Gesetz zur Stärkung der Heil- und Hilfsmittelversorgung (HHVG) mit seinen umfangreichen Maßnahmen zur Kontrolle der Krankenkassen. Zu diesem Zeitpunkt hatten noch 182 befragte Ärzte Vorschläge zur Kodierung von Diagnosen erhalten. Umgerechnet entspricht das knapp 11.000 Kollegen bundesweit. Seit April 2017, das Gesetz war nun "scharf geschaltet", waren es 79 Mediziner, entsprechend 4.600 Kollegen bundesweit. Ab diesem Zeitpunkt greifen strikte Verbote zur Einflussnahme. Aufgrund der neuen Gesetzeslage änderte sich ab April 2017 das methodische Vorgehen von GKVen. Der Anteil persönlich angesprochener Ärzte verringerte sich von 62,9 auf 44,0 Prozent. Gleichzeitig kam es häufiger zur telefonischen Kodierberatung (20,1 versus 24,7 Prozent). Noch stärker gewinnt die Praxis-IT an Bedeutung (17,0 versus 28,0 Prozent).
Bei allen Kontakten standen einzelne Erkrankungen häufig im Fokus (67,0 Prozent), wie etwa Erkrankungen des Kreislaufsystems, endokriner Organe, Ernährungs- und Stoffwechselkrankheiten und Krankheiten des Atmungssystems. Ebenfalls häufig erhielten Ärzte Vorschläge zur Diagnosekodierung bei chronischem Schmerz und bei psychischen Erkrankungen respektive Verhaltensstörungen. Von 820 Medizinern, die Tipps bekamen, gaben rund 67 Prozent an, zur Kodierung von endstelligen Diagnosen beraten worden zu sein. Bei 50,1 Prozent ging es um die Auswahl der Diagnosen, bei 45,9 Prozent um die Kodierung von gesicherten Diagnosen und bei 45,7 Prozent um die Kodierung von Diagnosen in verschiedenen Quartalen. GKVen sprachen 41,8 Prozent der Ärzte an, um Verdachtsdiagnosen in gesicherte Diagnosen umzuwandeln. Zur Anzahl der Diagnosen erhielten nur 15,2 Prozent weitere Vorschläge. Aus ärztlicher Sicht ist das Echo geteilt. Sie bewerten die Tipps entweder als störend (26 Prozent), nicht hilfreich (23 Prozent), eher hilfreich (44 Prozent) oder sehr hilfreich (7 Prozent).
„Durch dieses System wird es für Krankenkassen lukrativ, darauf Einfluss zu nehmen, dass ihre Versicherten bestimmte Diagnosen zugeschrieben bekommen. Für die Beratung der Ärzte zu dieser Kodierung geben sie Geld aus, das stattdessen in die Versorgung der Versicherten fließen sollte“, sagt Dr. Jens Baas, Vorstandsvorsitzender der TK. „Der Wettbewerb der Krankenkassen sollte über gute Leistungen und guten Service funktionieren und nicht über das Beeinflussen von Arztdiagnosen.“ Welche Kassen Ärzte besonders häufig kontaktiert haben, lässt sich aus der Studie nicht ableiten.