Ich bin ein echter Nachtmensch. Deswegen arbeite ich gerne und inzwischen ausschließlich im Nachtdienst. Doch nach fünf Jahren bemerke ich, dass es mir immer schlechter geht. Haben die Nachtdienste etwa meine Psyche zerstört?
Die weiße Hausmauer blendet mich mit blauem Geblitze unserer Signalanlage, als wir um 3:09 Uhr mit unserem Rettungswagen vor dem Haus eintreffen. „Bauchschmerzen“, papageie ich meinem Kollegen die Meldung des Datendisplays zu, als wir die Treppen hinauflaufen. Im Schlafzimmer finden wir die 67-jährige Patientin mit besagtem Problem. Zuerst Anamnese und Untersuchung. Maßnahmen sind nicht notwendig. Meine Hände arbeiten präzise, doch in meinem Kopf tobt ein Sturm. Wie aus dem Nichts überkommt mich eine Welle der Erschöpfung, gefolgt von einem irrationalen Anflug von Wut. „Warum so ein Scheiß wieder mitten in der Nacht?“, denke ich. Ich ermahne mich innerlich, während ich der Patientin zulächle und Hilfe signalisiere. Doch das Lächeln fühlt sich an wie eine Grimasse. Mein Geist beschäftigt sich nebenbei mit zwischenmenschlichen Problemen im Kollegenkreis und führt imaginäre Dialoge, in denen ich versuche, meinem Konfliktpartner einen Sachverhalt zu begründen. Die alte Dame gegenüber merkt nichts davon. Auf dem Weg zum Krankenhaus kämpfe ich gegen die aufsteigende Dunkelheit in meinen zerfransten Gedanken.
In der Notaufnahme muss ich mich wieder mal dafür rechtfertigen, wieso ich ausgerechnet in dieses, und in kein anderes Krankenhaus gefahren bin. Das Pflegepersonal dort wirkt feindselig und überarbeitet. Ich schiebe es auf die Uhrzeit, setze mich in den RTW und werde von der Leitstelle sofort wieder gezogen – ein Besoffener, der in einem Park auf der Wiese liegt. Auf dem Weg zum Einsatz steigt die stinkende, schwarze Brühe in meinem Kopf immer höher. Die Falle hat zugeschnappt und ich habe nichts gemerkt.
Vor fünf Jahren habe ich in unserem Dienstplanbüro beantragt, nur noch im Nachtdienst eingesetzt zu werden. Ich bezeichne mich schon immer als Nachtmensch. Meine kognitive Leistungsfähigkeit befindet sich gefühlt ab 22 Uhr auf einem Maximum, und kreative Ideen fließen dann nur so aus mir heraus, ohne dass ich mich großartig anstrengen muss. Ich habe zudem festgestellt: Wenn ich mich morgens um 7:30 Uhr nach einem Dienst ins Bett lege, benötige ich im Gegensatz zum Tagdienst sehr wenig Schlaf und stehe gegen 11 Uhr auf, kann Sport machen und direkt danach wieder in die Arbeit gehen. Kurzerhand habe ich meinen kompletten Rhythmus auf den Nachtdienst umgestellt. Auch wenn ich frei hatte, blieb ich lange auf und schlief meistens bis mittags. Ich mochte die Nacht schon immer: Sie ist friedlich, still und transzendent.
Aber vor drei Jahren ging es dann los: zunächst wenig, dann immer steiler. Unerklärliche Stimmungsschwankungen, Gedächtnisprobleme, Wutanfälle über Kleinigkeiten und depressive Einbrüche bis zum mentalen Stillstand folgten. Ich fing an, mich massiv über Alltagsbanalitäten aufzuregen. In meinem Kopf begannen imaginäre Streitgespräche, in denen ich meinem schuldigen Gegenüber im Verlauf alles Mögliche vorwarf. Diese Szenen wiederholten sich und ich konnte dieser Spirale einfach nicht entkommen.
Ich begann, nach Ursachen zu suchen und verdächtigte zunächst Stressoren meines Arbeitsumfeldes im Rettungsdienst, die ich dann jedoch nach und nach ausschalten konnte. Auch eine Reduzierung meiner Arbeitszeit brachte nicht den gewünschten Erfolg. Mein soziales Umfeld schien ebenfalls nicht für das verantwortlich zu sein, was mit mir passierte. Meine Kompensationsgrenze kam mir bedrohlich nahe, bis ich auf einen informativen DocCheck-Artikel über den zirkadianen Rhythmus stieß. Für mich war nun klar, in die „Mind-after-Midnight“-Falle getreten zu sein. Ich hatte meine Psyche mit einer kompletten Umstellung vom Tag- auf den Nachtrhythmus selbst zerstört – und nun bekam ich die Rechnung dafür präsentiert.
Für die Mind-After-Midnight-Theorie habe ich mir in Bezug auf meine Situation folgende Erklärungen überlegt:
Meine immer prominenter werdenden inneren Konflikte und emotionalen Achterbahnen scheinen typische Symptome chronischen Schlafmangels zu sein. Mehrere Studien im Journal of Neuroscience (hier, hier, hier und hier) zeigen, dass Schlafentzug zu einer Überaktivierung der Amygdala führt, was zu stärkeren emotionalen Reaktionen und verminderter Kontrolle durch den präfrontalen Cortex führt. Blöderweise ist die Amygdala jenes Hirnareal, das für die Verarbeitung von Emotionen zuständig ist. Das Ergebnis ist eine bis zu 60 % erhöhte Reaktivität auf negative Reize.
Dass ich meine Kreativität zu später Stunde für eine persönliche Eigenheit hielt, hat eine wissenschaftliche Grundlage: nachts sind tatsächlich andere Hirnregionen aktiv als tagsüber. Während des Tiefschlafs ist beispielsweise der Hippocampus besonders aktiv und konsolidiert Erinnerungen. Im REM-Schlaf arbeiten Regionen des limbischen Systems auf Hochtouren, die für die Verarbeitung von Emotionen und Gedächtnisinhalten zuständig sind. Das alles wusste ich bereits vorher, aber indem ich diese Phasen dauerhaft durch mein Nachtleben störte, brachte ich mein gesamtes neuronales System aus dem Gleichgewicht. Und dass das passieren würde, wusste ich vorher nicht.
Dieser Moment, kurz nach 3 Uhr morgens, ist neurobiologisch betrachtet eine Art perfekter Sturm. Studien zeigen, dass um diese Zeit die Ausschüttung des Schlafhormons Melatonin ihren Höhepunkt erreicht, während der Cortisolspiegel, der uns bei der Stressbewältigung hilft, auf seinem Tiefpunkt ist. Mein Gehirn befindet sich um diese Zeit buchstäblich im ungeschützten Ausnahmezustand.
Meine emotionalen Ausbrüche und die verminderte Fähigkeit zur Konfliktbewältigung sind aus meiner Sicht direkte Folgen des Schlafmangels. Auch hier haben wieder Studien gezeigt, dass der nächtliche Schlaf, insbesondere der REM-Schlaf, eine entscheidende Rolle bei der emotionalen Verarbeitung und Regulierung spielt. Ohne ausreichenden Nachtschlaf verliert unser Gehirn die Fähigkeit, Emotionen angemessen zu verarbeiten und zu kontrollieren.
Was ich für Effizienz hielt, war in Wirklichkeit der Beginn eines gefährlichen Teufelskreises. Wissenschaftler haben herausgefunden, dass Menschen, die ausschließlich tagsüber schlafen, ähnliche Symptome zeigen wie jene, die unter chronischem Schlafentzug leiden. Unser zirkadianer Rhythmus ist evolutionär darauf ausgelegt, nachts zu schlafen. Tagschlaf ist oft weniger erholsam und effizient, was zu einem schleichenden, aber stetigen Schlafdefizit führt.
Die Mind-after-Midnight-Hypothese besagt, dass unser Gehirn nach Mitternacht in einen besonderen Zustand übergeht, in dem negative Gedanken und Emotionen verstärkt werden, während unsere Fähigkeit zur rationalen Entscheidungsfindung und Selbstkontrolle abnimmt. Für jemanden wie mich, der regelmäßig in diesen Stunden arbeitet, bedeutet dies kognitive wie auch emotional höchste Belastung – und dies permanent.
Die schmerzhafte Erkenntnis, dass meine vermeintliche Nachteulen-Natur in Wirklichkeit ein selbstzerstörerischer Kreislauf meiner mentalen Gesundheit ist, trifft mich hart. Doch in dieser bitteren Wahrheit liegt auch der Keim der Veränderung. Die Nachtarbeit im Rettungsdienst ist zwar unvermeidbar, doch ich bin nun gezwungen, den entstandenen Schaden mit aller Ernsthaftigkeit zu betrachten und proaktiv Strategien zu entwickeln, um die Auswirkungen auf mich zu minimieren.
Für mich beginnt nun ein langer und herausfordernder Weg, und ich hoffe, dass sich die Mühe lohnen wird. Auch wenn ich die nächtliche Stille vermissen werde, wird mir eine Rückkehr in den Tagdienst nicht erspart bleiben. Allen, die wie ich in Schichtarbeit oder Nachtdiensten tätig sind, kann ich nur empfehlen, besonders achtsam mit sich umzugehen und regelmäßig zu überprüfen, ob der gewählte Rhythmus wirklich zum eigenen Wohlbefinden beiträgt. Denn wenn es uns nicht gut geht, können wir auch niemand anderem helfen.
Quellen:
Yoo et al. The human emotional brain without sleep—a prefrontal amygdala disconnect. Current Biology, 2007. doi: 10.1016/j.cub.2007.08.007.
Dang-Vu et al. Spontaneous neural activity during human slow wave sleep. Proceedings of the National Academy of Sciences, 2008. doi: 10.1073/pnas.0801819105
Czeisler & Klerman. Circadian and sleep-dependent regulation of hormone release in humans. Recent progress in hormone research, 1999.
Walker & van Der Helm. Overnight therapy? The role of sleep in emotional brain processing. Psychological bulletin, 2009. doi: 10.1037/a0016570
Killgore, Balkin, & Wesensten. Impaired decision making following 49 h of sleep deprivation. Journal of sleep research, 2006. doi: 10.1111/j.1365-2869.2006.00487.x
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Medic et al. Short- and long-term health consequences of sleep disruption. Nature and science of sleep, 2017. doi: 10.2147/NSS.S134864
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