KOMMENTAR | Kinderlosigkeit, Darmprobleme und selbst Krebs soll die ganzheitliche Zahnmedizin heilen. Welche Erfahrungen ich als Zahnarzt mit den „Erleuchteten“ und ihren Praktiken gemacht habe, lest ihr hier.
Was so klingt, als würde es neben all den „halbheitlich“ arbeitenden Zahnärzten endlich eine Gruppe geben, die den Tellerrand überwunden hat, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als Geschäftsmodell mit erheblichem Beigeschmack. Meine Erfahrungen mit dieser Branche sind ausnahmslos negativ. Als Mitarbeiter in einer „ganzheitlich“ orientierten Zahnarztpraxis habe ich lernen dürfen, wie es um diese Ausrichtung, die in den letzten Jahren aus ihrem einstigen Nischendasein heraus zunehmend flächendeckende Präsenz zeigt, bestellt ist.
Ich staunte nicht schlecht, als in besagter Praxis von „Organbeziehungen“ die Rede war, vom „Darmzahn“, von Zahnengständen, die mit Kinderlosigkeit korrelieren, von Entgiftungsbehandlungen, die nur er, der professionell „ganzheitlich“ arbeitende Zahnarzt beherrsche und auch Tumorerkrankungen mit einem Blumenstrauß invasiven Handwerks in die Schranken weisen kann. Neugierig war ich dabei, als sich ein illustrer Kreis von Kollegen zu einer „Fortbildung“ in den Praxisräumen einfanden. Mulmig wurde mir, als sich die Runde abends beim Bier despektierlich über Tumorpatientinnen amüsierte, die „einfach jeden Mist glauben“. Es dauerte nicht lange, bis ich begriff, dass es hier nicht um die Erweiterung des in der Medizin und Zahnmedizin vermeintlich zu eng gestrickten Horizontes ging, sondern um ein Geschäftsmodell der besonderen Art.
Als Zahnarzt hat man, vorausgesetzt, man besitzt ein Mindestmaß freundlicher Empathie und beherrscht sein Handwerk, tagtäglich sehr viel zu tun. Die Nachfrage lässt in Praxen, die diese beiden Punkte erfüllen, keinerlei Bedarf nach esoterischem Ballast aufkommen, im Gegenteil: Er ist überflüssig. So sind auch meine Erfahrungen mit Kollegen dieser Branche. Zumindest in einem der beiden genannten Bereiche zeigen sich aus meiner Sicht die Anbieter „ganzheitlicher“ Methoden defizitär. So wurde mit viel Zeit das Pendel bemüht, um bei einer Klosterfrau eine hormonelle Schräglage zu diagnostizieren, andererseits wusste der Kollege nicht, warum seine von ihm gefertigten Teleskop-Prothesen „immer wackeln“.
Einem bedauernswerten Patienten, der an einer diffus metastasierendem Tumorerkrankung litt, wurden in einer Sitzung (!) sämtliche Amalgamfüllungen entfernt, woraufhin sich dieser „endlich entgiftet“ fühlen sollte. Die Folge: Aufgrund der unfachmännisch entfernten Füllungen, die sich bei vielen Seitenzähnen bis in die Nähe der Pulpa erstreckten und in allen vier Quadranten heftige Hypersensibilitäten entstanden, konnte der Patient nicht mehr essen. Unvergessen bleibt mir der an Zynismus nicht zu übertreffende Kommentar: „Wissen Sie, Herr Bertelsen, er [der Patient] war Versicherungsvertreter und hat Lebensversicherungen verkauft.“
Solche „Behandlungen“ stellen aus meiner Sicht keinen Therapieversuch dar, sondern erfüllen den Tatbestand der gefährlichen Körperverletzung in Tateinheit mit Betrug. Daher sollten sogenannte „Amalgamsanierungen“ bei Vorliegen einer Tumorerkrankung unterbleiben. Um durch ihre Erkrankung ohnehin schon geschwächte und seelisch belasteten Menschen vor überflüssiger zahnärztlicher Manipulation zu schützen, plädiere ich für ein klares Statement von offizieller Stelle, zumal sich seit dem EU-Verbot des quecksilberhaltigen Materials die Nachfrage nach „Detox“-Verfahren erhöhen dürfte.
Tumorpatienten stellten die Hauptklientel in dieser Praxis. Menschen, denen man sagte, man könne nach Operation, Chemotherapie und Bestrahlung nun nichts mehr für sie tun. Alleingelassen mit ihrem Schicksal, suchen Menschen mit behandelter Tumorerkrankung nach einem Strohhalm, der ihnen Hoffnung auf ein Überleben vorgaukelt. Befeuert wird dieser verständliche Wunsch durch eine Öffentlichkeit, die sich nur ungern mit dem Thema Krankheit und Tod befassen möchte, und, oftmals aus Angst, man könne sich durch ein empathisches Gespräch mit seinem Angehörigen/Freund mit der eigenen Vergänglichkeit konfrontiert sehen, den Tumorerkrankten lieber „zum Heiler“ oder zum „Homöopathen“ schickt.
Dass Menschen im Jahre 2024 glauben, es gäbe geheime Verbindungen zwischen Organen und Zähnen, gehört für mich zu den lustigsten Märchen, die von „ganzheitlich“ orientierter Warte posaunt wird. Die zunehmende Anzahl von Zahnarztpraxen, die sich mit dem skurrilen Label schmückt, steigt. Solange hier keine breite Aufklärung erfolgt, dürften die von vermeintlich kompetenter Seite angerichtete Schäden ansteigen.
Ob es politisch gewollt ist, Schäden durch Aufklärung zu vermeiden, weil jeder Scharlatan schließlich auch nur seiner Steuerpflicht nachkommt, ist eine gänzlich andere Frage. Ich persönlich fürchte, dass sich erst dann, wenn Krankheitskosten negativ in das Brutto-Inlands-Produkt (BIP) eingerechnet werden, Scharlatane nach einer Umschulung bemühen werden.
Bildquelle: Bailey Burton, Unsplash