Ich bin ratlos. Immer mehr Patienten kommen in die Praxis und verlangen eine Erhöhung ihres Behinderungsgrades – ohne medizinische Indikation. Das hätten sie sich jetzt endlich verdient, so ihre Erklärung. Warum wir ihr Leiden ernst nehmen müssen.
Manchmal gibt es Formulierungen, die mich als Ärztin mit den Zähnen knirschen lassen. Aktuell ganz oben auf meiner Liste: „Ich seh mich nicht mehr arbeiten.“ Dieser Satz fällt gefühlt immer häufiger. Vorzugsweise höre ich diesen Satz von Patienten, die zwischen Mitte fünfzig und Anfang sechzig sind. Gleichzeitig scheint das subjektive Erleben der Patienten faktisch unumstößlich.
Für mich als Ärztin ist das extrem schwierig: Diese Patienten haben fast alle eine längere Krankengeschichte hinter sich – durchgemachte transitorisch ischämische Attacken, kurativ behandelte bösartige Erkrankungen, teils auch frühere Depressionen, etc. Dafür tun mir diese Patienten auch leid und ich habe immer versucht, sie darin zu unterstützen. Mein Problem liegt darin, dass diese Patienten noch eine Gemeinsamkeit haben: Die durchgemachten Erkrankungen haben meist (glücklicherweise) wenig bis keine objektivierbaren Schäden hinterlassen und es laufen keine aktiven Therapien (außer z.B. Bluthochdruck-Dauermedikation).
Manche dieser Patienten kommen durchaus eher schwungvoll rein, setzen sich dann aber mit Leidensmiene auf den Stuhl, als hätte jemand einen Schalter umgelegt, und erzählen mir dann, dass sie z.B. eine Erhöhung des GdB (Grad der Behinderung) möchten oder die Erwerbsminderungsrente beantragen. Wenn ich nach den Beschwerden frage oder was schlimmer geworden ist, kommt häufig nur „Ach Frau Doktor, Sie wissen ja um meine Vorgeschichte“.
Das ist eine emotional ziemlich vertrackte Situation: Natürlich weiß ich um die Vorgeschichte (s.o.) und sehe auch das durchgemachte Leid, aber der GdB ist keine Beurteilung der VORgeschichte, sondern der aktuell eingeschränkten Situation. Und nach über 10 Jahren Rezidivfreiheit nach Karzinom (und kaum bis gar keinen Vorstellungen bei uns oder anderen Ärzten wegen konkreter Beschwerden) kann ich auch nur schwer argumentieren, warum jetzt dauerhaft die Erwerbsminderungsrente fällig ist (vorher temporär).
Auf den Versuch der Aktivierung, z.B. durch eine Reha kommt ein rigoroses „Nein, eine Reha mache ich nicht mehr“. Auch die Erklärung, dass ein Job ja gerade bei psychischen Problemen auch ein stabilisierender Faktor sein kann, wird komplett abgebügelt mit „nein, das kann ich alles nicht mehr“. Wobei man immer wieder erstaunt ist, wie leistungsfähig die Leute im Privatbereich sind – weite Reisen, teilweise Versorgung eines eigenen Pferdes, etc. Also durchaus körperlich anstrengende Tätigkeiten.
Ich weiß nicht, ob das jetzt gerade meine veränderte Wahrnehmung ist … Ich weiß, dass mir städtische Kollegen da früher auch von erzählt haben, aber ich das (bislang) nie so gesehen habe … Ob unsere Land-Bevölkerung da einer Entwicklung folgt, die die Städte schon länger vollzogen haben? Oder ob ich selbst da jetzt stärker sensibilisiert bin? Keine Ahnung.
Mein Eindruck ist, dass sich diese Patienten nicht „gesehen“ fühlen und der GdB und die Erwerbsminderungsrente vor allem für diese Patienten eine Art „Wertschätzung/Anerkennung“ für die vorherigen Erkrankungen und letztlich ihre Lebensgeschichte ist. „Das hab ich mir jetzt endlich verdient“ quasi. Denn diejenigen, die in ihrem Job Anerkennung bekommen und wo die Chefs unterstützen, kommen seltener bzw. oft schon proaktiv mit dem Thema Wiedereingliederung. Einige arbeiten (vermindert) sogar weit über das Rentenalter hinaus.
Das würde vielleicht erklären, warum mir dieses Phänomen jetzt immer stärker begegnet (falls das nicht nur eine verstärkte Wahrnehmung ist): Im (eher anonymen) städtischen Umfeld würden sich die Leute eher „nicht gesehen/anerkannt“ fühlen als im ländlichen, wo die Gemeinschaft bislang auch noch größer geschrieben wird – aber eben auch da bröckelt es. Und gerade seit der Corona-Zeit ist das Thema „Anerkennung“ meines Empfindens nach auch ein deutlich größeres geworden.
Sicherlich besteht ein (großer) Teil des Problems mit diesen Patienten auch da wieder in der Unumstößlichkeit der Patientenmeinung – über meine Probleme mit dem Konflikt zwischen Selbstwahrnehmung des Patienten und der Degradierung des Hausarztes zum Ausführungsgehilfen hab ich ja schon mehrfach geschrieben. Aber ich glaube auch, dass wir als Gesellschaft uns überlegen müssen, WARUM sich diese Leute so wenig gesehen fühlen. Ist es das Gefühl, als älterer Mensch in der stärker digitalisierten Welt abgehängt zu sein? Oder nicht mehr die Arbeitsintensität „bringen“ zu können, die heutzutage oft gefordert wird?
Ich weiß es nicht – ich habe mehrere Angestellte über 60, die mir auch sagen, dass es ihnen manchmal grenzwertig viel wird. Ich versuche dann immer, das zu berücksichtigen, digitale Änderungen möglichst einfach zu machen (einfache Anleitung bzw. möglichst wenig Schritte, Fragen immer wieder geduldig beantworten, etc.). Und halt eben dafür zu sorgen, dass genug Personal da ist und man sich gegenseitig unterstützt. In unserer Praxis scheint das zu funktionieren (gerade erst hat meine nächste MFA die Rente durch, bleibt aber noch bis zum nächsten Sommer, wofür ich ihr gerade für die Infektsaison SEHR dankbar bin). Aber klar, das sind sehr individuelle Maßnahmen und das ist bei weitem nicht bei jedem Arbeitgeber der Fall.
Trotzdem glaube ich, dass wir da schleunigst als Gesellschaft gegensteuern müssen, denn diese Patienten haben einen starken subjektiven Leidensdruck. Ich glaube nicht, dass sie zu Hause sitzen und sich vornehmen, heute beim Arzt eine Show abzuziehen. Sie glauben FEST, dass sie nicht mehr arbeiten können, ihnen aber auch diese „Anerkennung“ durch die Rente „zustehen“ müsste aufgrund dessen, was sie früher geleistet und/oder erlitten haben.
Andererseits sehe ich auch, dass diese Ansprüche gerade in der zunehmenden Anzahl nicht erfüll- und finanzierbar sind. Gerade Geld ist bei diesen Patienten auch nicht das primäre Problem: Sie nehmen ja die Abschläge in Kauf, die sie bekommen, weil sie früher in Rente gehen. Aber sie sind emotional einfach so weit außen vor, dass ihnen das egal ist.
Ich fürchte, wir müssen vor allem früher ansetzen und den Arbeitenden das Gefühl geben, dass wir ihre Arbeit sehen und wertschätzen! Nicht, in dem andere abgewertet werden, sondern indem wir das, was die Leute leisten, wirklich positiv SEHEN!
Denn letztlich wollen alle Menschen nur wertgeschätzt werden!
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