Ob Homeoffice, Serienabend oder Autofahrten – Patienten sitzen immer häufiger und länger. Dabei warten nicht nur Adipositas und Herz-Kreislauf-Probleme auf die Vielsitzer. Wie ihr sie zu mehr Bewegung animiert, lest ihr hier.
Für Eilige gibt’s am Ende des Artikels eine kurze Zusammenfassung.
In den letzten Jahren hat es viele Veröffentlichungen zu den Risiken sitzender Tätigkeiten gegeben, bei denen mehr und länger gesessen wurde als üblicherweise im Büro. Insbesondere die Corona-Zeit mit dem einhergehenden starken Anstieg an Homeoffice-Zeiten hat zur Hinwendung an die Thematik beigetragen. Es wurde sogar ein neuer Slogan kreiert: Sitzen ist das neue Rauchen.
Dieser Satz stammt von Prof. James Levine, Endokrinologe und Ernährungsmediziner an der Mayo Clinic in Scottsdale, Arizona. Er postuliert, dass langes Sitzen unser Leben verkürzt und behauptet: „Jede Stunde, die wir sitzen, kostet zwei Stunden Lebenszeit.“ Tatsächlich belegen Studien den Zusammenhang zwischen längerer Sitzdauer und geringerer Lebenserwartung. Ein doppelt so hohes vorzeitiges Sterberisiko hat jemand, der mehr als 13 Stunden täglich sitzt, als jemand, der weniger als elf Stunden am Tag sitzt.
Sitzen erhöht die Wahrscheinlichkeit von Adipositas. In jeder Stunde, in der wir stehen anstatt zu sitzen, verbrennt unser Körper ca. 50 Kilokalorien mehr. Das entspricht etwa einer Orange, einem Pfirsich oder einem Glas Apfelsaft, was nicht viel erscheint, sich aber im Laufe eines Jahres aufsummiert.
Rechenbeispiel:
Ein Kilogramm Fettgewebe entspricht 9.300 kcal. Wer täglich zwei Stunden steht anstatt zu sitzen, verliert diese Kalorien in 93 Tagen, bzw. im Jahr vier Kilogramm Fett. Und das ohne irgendeine sportliche Betätigung.
2023 wurde ein Report der Deutschen Sporthochschule Köln und der DKV veröffentlicht, nach der wir pro Werktag mit über neun Stunden (554 Minuten) täglichem Sitzen knapp 1,5 Stunden länger sitzen als noch 2018. Dies betrifft mit 74 % besonders die Altersgruppe zwischen 18 und 29 Jahren, die durchschnittlich über zehn Stunden (621 Minuten) sitzt. Bestätigt wurde außerdem, dass Menschen im Homeoffice kaum Bewegungspausen einlegen.
Während Frauen etwa 8,5 Stunden Sitzdauer aufweisen, kommen Männer auf rund 10 Stunden werktäglich. Bereits 2012 ergab eine Studie, dass sich die Lebenserwartung durchschnittlich um bis zu zwei Jahre erhöht, wenn weniger als drei Stunden am Tag gesessen wird. Auf diese geringe Sitzzeit kommen global gesehen z. B. Portugiesen, Brasilianer und Kolumbianer.
Im Sitzen ist der Druck auf den unteren Rücken um 90 % höher als im Stehen, was besonders die Bandscheiben belastet und den Muskeltonus steigert. Hinzu kommt oft eine Protraktionsfehlhaltung von Kopf und Schultern, was die Entstehung einer BWS-Hyperkyphose und damit eines Rundrückens fördert. Besonders die Trapezmuskulatur ist chronisch überlastet und häufig mit Hartspann tastbar. Zur Prävention dienen individuell und ergonomisch zugerichtete Arbeitsplätze mit Einstellmöglichkeiten von Sitz- und Tischflächenhöhen sowie ggf. des Bildschirms.
Neben orthopädischen Problemen entwickeln sich häufiger Herz-Kreislauf- und Stoffwechsel-Erkrankungen. Laut einer britischen Studie haben Busfahrer deutlich mehr Herzinfarkte und andere Herz-Kreislauf-Probleme als Busschaffner, die ständig stehen und gehen. Im Sitzen reduziert sich die Aktivität in den Beinen, was sich ungünstig auf den Stoffwechsel auswirkt. Der Kalorienverbrauch wird geringer und der Abbau von Blutfetten vermindert, das HDL-Cholesterin sinkt. Die Regulierung des Glukosestoffwechsels verschlechtert sich, so dass das Risiko für Diabetes mellitus Typ II steigt. Zudem stehen Bewegung und Hirnleistung in direktem Zusammenhang. Langes Sitzen kann das Risiko für Alzheimer erhöhen. Regelmäßige Bewegung verbessert nicht nur die Nährstoff- und Sauerstoffversorgung im Gehirn, sondern auch die Konzentrations-, Lern- und Leistungsfähigkeit.
Bereits fünf Minuten Bewegung alle 30 Minuten können die Risiken langen Sitzens deutlich vermindern. Wissenschaftler aus den USA kommen in einer Studie mit über 25.000 Frauen zu dem Ergebnis, dass bereits wöchentlich eine Stunde rasches Gehen (schneller als fünf Kilometer pro Stunde) der Entwicklung einer Herzinsuffizienz vorbeugt. Eine andere Untersuchung bestätigt den günstigen Einfluss täglichen Gehens auf das Herz-Kreislauf-System. Dabei müssen es nicht die immer wieder genannten 10.000 Schritte sein, sondern die Anfang 60 Jahre alten Studienteilnehmer profitierten bereits von 6.000 bis 9.000 Schritten täglich und konnten damit ihr Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen um bis zu 38 % vermindern.
Der größte Effekt wird bei den ersten 6.000 Schritten erzielt. Noch genauere Aussagen liefert eine Veröffentlichung im British Journal of Sports Medicine vom Januar 2024. Eine Studie mit über 72.000 Teilnehmern ergab, dass sich ab täglich 2.200 Schritten das Sterblichkeits- und kardiovaskuläre Risiko verringert, die Mindestdosis für Menschen mit sitzender Tätigkeit zwischen 4.000 und 4.500 Schritten beträgt, das geringste Sterblichkeitsrisiko aber bei 9.000 bis 10.500 Schritten liegt, und zwar – das ist bemerkenswert – unabhängig von der täglichen Sitzdauer. Bei weniger Schritten wirkt sich eine längere Sitzdauer jedoch ungünstig aus. Bei gleicher täglicher Schrittzahl ist das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen für Menschen mit geringer Sitzdauer ca. 10 % geringer als für Menschen mit langer Sitzdauer.
Ideen zur Arbeitsplatzgestaltung, die ihr euren Patienten raten könnt, um öfter aufzustehen:
Ratet euren Patienten, ihr Bewegungsverhalten kritisch hinterfragen und daran zu denken: Treppengehen ist besser als Aufzugbenutzung, Radfahren besser als Autofahren, kurze Strecken sollten zu Fuß zurückgelegt werden. Im Homeoffice kann man außerdem ungestört jede Stunde Kniebeugen, Hampelmann und Armgegenkreisen machen. Ihr Körper wird es ihnen danken.
Bildquelle: erstellt mit DALL-E