Aus unerklärlichen Gründen sterben immer mehr Patienten in der Herzchirurgie von Oldenburg. Dann wechselt Niels Högel den Arbeitsplatz – und die rätselhaften Todesfälle gehen dort weiter.
Niels Högel arbeitet seit der Jahrtausendwende als Krankenpfleger im Klinikum Oldenburg auf der herzchirurgischen Station. Er arbeite „gewissenhaft und selbstständig“ – das sagt zumindest sein später ausgestelltes Arbeitszeugnis. Wie selbstständig er arbeiten wird, ist zu Beginn seiner Krankenhaus-Karriere niemandem bewusst.
Die Station 211 beruft im August 2001 alle Kollegen zu einer Versammlung ein, um die ungewöhnlich hohe Anzahl an Reanimationen und Sterbefällen in den letzten Monaten zu diskutieren. Auch Högel ist dabei. Aus Angst, erwischt worden zu sein, meldet er sich für drei Wochen krank – und während seiner Abwesenheit geht die Rate deutlich zurück. Högels Kollegen fällt das direkt auf. Ob es purer Zufall ist oder etwas zu bedeuten hat, bleibt aber zu dem Zeitpunkt noch offen. Doch die Station fühlt sich unwohl – und so kommt es zu Högels Versetzung in die Anästhesie.
Auch hier bemerkt der Chefarzt eine Anhäufung von Krisensituationen, in die Högel immer involviert ist. Dabei drängt er sich in den Mittelpunkt, möchte gern den Retter spielen. Die unerklärlichen Reanimationen und Todesfälle in Högels Beisein nehmen in Oldenburg ein Ende, als der Chefarzt des Klinikums ihn zur Kündigung drängt. Sein Arbeitszeugnis impliziert aber keinerlei Hinweise auf den Grund des Stationswechsels oder der Kündigung. Stattdessen wird Högel für seine „Einsatzbereitschaft“ und sein „kooperatives Verhalten“ gelobt.
Högel wechselt ins Klinikum Delmenhorst. Zu Beginn wird er von seiner neuen Kollegschaft geschätzt, doch irgendwann verbreitet sich ein komisches Gefühl. Auch in Delmenhorst bemerkt das Personal eine skurrile Anhäufung von Reanimationen und Todesfällen. Vier leere, nicht verordnete Ampullen Gilurytmal werden gefunden. Das Antiarrythmikum der Klasse I wird bei supraventrikulären und ventrikulären Tachykardien durch intravenöse Applikation eingesetzt. Zu den Nebenwirkungen gehören eine paradoxe proarrythmische Wirkung und Störungen des Kreislaufsystems. Bei Überdosierung kann es zum kardiogenen Schock kommen. Möglicherweise haben einige Kollegen Högel bereits in Verdacht, doch diese Bedenken wurden nie öffentlich geäußert.
Högles Mordserie nimmt am 22. Juni 2005 ein Ende – denn er wird auf frischer Tat ertappt, als er gerade dabei ist, einem Patienten auf der Intensivstation ohne ärztliche Indikation das Gilurytmal injizieren zu wollen. Er wird entlassen und später festgenommen. In der Anklageschrift werden ihm dreifacher Mord und zweifacher Mordversuch vorgeworfen – 30 weitere Morde gibt Högel selbst zu. Ein langjähriger Prozess beginnt, bei dem immer mehr Akten und Todesfälle mit Högel in Verbindung gebracht und diskutiert werden. Auch kommt es zu 134 Exhumierungen von mutmaßlichen Opfern Högels. Insgesamt werden 200 Fälle begutachtet. Schließlich werden dem Ex-Krankenpfleger im Jahr 2018 rund 100 Morde vorgeworfen. Wie viele Patienten durch Högel dem Tod in die Augen schauen mussten und ihm durch Högels Reanimationen wieder entkamen, bleibt unklar.
Nicht nur die Angehörigen der verstorbenen Patienten, sondern die ganze Bevölkerung fragt sich, wie eine solche Tat begangen werden kann – insbesondere in einem Beruf, der Hilfsbereitschaft für die Schwächeren erfordert. Es gibt einige Fälle, bei denen Ärzte oder Pfleger ihre Patienten bewusst krank machen, um sich dann durch die Rettung der Patienten Anerkennung und Bewunderung vom Umfeld abzuholen. Oft sind die Täter selbst unsicher und versuchen auf diese Weise ihr Selbstbewusstsein zu boosten. Auf der Arbeit gelten sie als pflichtbewusst und fleißig.
Die ungewöhnlich hohe Anzahl an Todesfällen oder Reanimationen während der Arbeitszeit der Täter wird dann als Pechvogeltum abgestempelt. Wird die Korrelation immer deutlicher, entwickeln die Kollegen zwar oft ein ungutes Bauchgefühl, trauen eine solche böse Absicht aber niemandem zu.
Ähnlich ist es beim Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom, bei dem meist Mütter Krankheiten von ihren Kindern erfinden oder sogar verursachen, um so Aufmerksamkeit zu kriegen und die hingebungsvolle Pflegende spielen zu können. Eine psychische Diagnose, die Högels Schuldfähigkeit in Frage stellen könnte, erhält er nicht. Er wird von den Psychologen im Prozess als voll schuldfähig eingestuft und zu lebenslangen Haft verurteilt. Högels „helfende Hände“ sind letztendlich in Handschellen.
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